Die Tränen der Vila
stets gesagt, dass sie selbst einer Elfe ähnlich sei, und manchmal hatte sie Lana sogar „meine kleine Vila“ genannt.
„Was meinst du damit?“, hatte Lana gefragt. „Was ist eine Vila?“
„Eine Vila ist ein Geisterwesen, das bei Nacht auf Lichtungen im Wald tanzt. Sie erscheint in der Gestalt eines Mädchens mit schönem, üppigem Haar. Die Orte, an denen sie tanzt, sind oft am niedergetretenen Gras erkennbar, und manchmal auch an Pilzen, die im Kreis wachsen. Solche Orte darf man nicht betreten, denn die Vila liebt es nicht, bei ihrem nächtlichen Reigen gestört zu werden.“
„Aber ich bin doch kein Geist!“, hatte Lana eingewendet. „Ich bin nur ein Mädchen.“
„Das ist wohl wahr. Doch manchmal soll es vorkommen, dass eine Vila sich in einen Jüngling verliebt, der allein im Wald wandert, und ihn zum Mann nimmt. Es heißt, dass die Kinder, die aus einer solchen Verbindung hervorgehen, klein und dunkelhaarig und von zarter Erscheinung sind – so wie du, meine Liebe.“
Lana hatte sie mit großen Augen angestarrt. „Du meinst also – ich bin das Kind einer Vila? Aber meine Mutter ist doch gestorben, und du bist die Mutter meiner Mutter!“
„Und auch meine Mutter war eine gewöhnliche Frau, die in einem Bauerndorf lebte. Doch vielleicht war einst, in alter Zeit, eine Vila unter unseren Vorfahren.“
„Glaubst du das, oder bist du dir sicher?“
Doch die Großmutter hatte nur gelächelt, über Lanas schwarzes Lockenhaar gestrichen und gemurmelt: „Wer weiß, mein Liebes. Wer weiß.“
Lana hatte oft und lange über Milnas Worte nachgedacht. Sie konnte nicht wirklich glauben, dass unter ihren Vorfahren ein Geist gewesen war. Dennoch erfüllte sie der Gedanke mit einem leichten Schaudern – manchmal aber auch mit leisem Stolz und sogar mit Trost, wenn die Nachbarsmädchen sie hänselten, weil sie so klein und schmächtig war.
Während sie unter der alten Buche saß, lauschte sie dem Flüstern des Windes in den Blättern und dem Raunen des Bachs. Zunächst hatte sie lange Zeit geweint, nun aber legte sie beide Hände um das kleine hölzerne Amulett, das an einer Kordel um ihren Hals hing. Mit diesem geschnitzten Figürchen, das kaum länger als ein Zeigefinger war, hatte es eine besondere Bewandtnis: Milna hatte es ihr vor kaum einer Woche geschenkt, und nun erinnerte sich Lana auch, dass sie ihr eine Geschichte dazu erzählt hatte. Die Figur stellte einen Schutzgeist dar, geschnitzt aus einem Stück Eichenholz von einem heiligen Baum. Das Amulett war ein Erbstück von Milnas Ahnen. Sie selbst hatte es einst von ihrer Mutter erhalten. Der Schutzgeist, so hatte sie erklärt, behütete seinen Träger ein Leben lang, vorausgesetzt, dass er aus einer warmen Hand empfangen wurde.
Lana hatte die Figur ehrfürchtig entgegengenommen und nicht gewagt, weitere Fragen zu stellen – nun jedoch, nachdem sie am Morgen die kalte Haut der Großmutter gefühlt hatte, verstand sie, was „mit warmer Hand“ bedeutete: Der Träger des Schutzgeistes musste diesen weiterreichen, solange er lebte. Der Gedanke versetzte Lana einen Stich, denn sie erkannte, dass die Großmutter ihren Tod vorausgesehen hatte. Kein Wort der Klage hatte sie vernehmen lassen, sie war lediglich stiller als früher gewesen, hatte lange geschlafen und auffallend wenig gegessen. Offenbar hatte sie gewusst, dass sie sterben würde – schließlich verstand sie sich auf die Botschaften der Geister und hatte stets beteuert, dass am Bett eines Sterbenden ein weißgekleidetes Mädchen erschien: Stand es am Fußende, bedeutete dies, dass die Krankheit vorübergehen würde; stand es jedoch beim Kopf, nahte der Tod.
Lana wog die kleine Figur in den Händen. Nun, da sie die Zusammenhänge verstand, empfand sie Rührung und Dankbarkeit. Solange sie dieses Amulett trug, war Milna nicht wirklich verschwunden. Es war, als wollte die Großmutter ihr mitteilen, dass sie immer bei ihr bleiben würde und dass kein Grund zur Trauer mehr bestand, wenn der Vater morgen den Scheiterhaufen entzündete. Der Gedanke war tröstlich, denn nun wusste sie, dass sie ihre Großmutter nicht für alle Zeiten verloren hatte, sondern sie in Gestalt des hölzernen Figürchens bei sich tragen konnte wie einen Schatz.
Das hölzerne Amulett, das sie von diesem Tag an niemals mehr ablegte, hatte die Gestalt eines kleinen Mannes in sehr vereinfachter Darstellung, mit spindelförmigem Rumpf ohne Arme und Beine, jedoch mit deutlich abgesetztem Kopf, der ein bärtiges
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