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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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Gesicht mit stumpfer Nase und großen, blanken Augen zeigte. Auf der Rückseite des Kopfes deuteten drei flache Kerben das in den Nacken fallende Haar an.
    Du kennst dieses Amulett, mein Sohn, wenngleich du dich fragen wirst, durch welche Umstände es beschädigt wurde und zerbrach, so dass nur der obere Teil erhalten blieb. Ich bitte dich, dir diese Frage zu bewahren und meiner Erzählung bis an jenen Punkt zu folgen, wo die Schilderung der dazugehörigen Umstände ihren Platz hat. Einstweilen sollst du nur wissen, dass der Schutzgeist seinen Zweck erfüllte, denn in der Tat wurde Lanas Leben beschützt, selbst als viele andere sterben mussten – und auch du verdankst dein Leben diesem geschnitzten Stück Holz. Damit du aber verstehst, wie es dazu kam, muss ich zunächst fortfahren, von meinem eigenen Schicksal zu berichten.

Wie ich unter die Räuber fiel
    Die Flucht aus Brunsvik rettete mein Leben, und dies nicht nur, weil einem Dieb der Tod am Galgen gedroht hätte: Wenige Tage darauf nämlich – so erfuhr ich viel später – erschienen die Truppen des Markgrafen Albrecht vor der Stadt, erstürmten sie und schleiften die Burg.
    Von alldem ahnte ich nichts. Reue plagte mich angesichts meiner Tat, dennoch erlaubte der Hunger mir nicht, den Apfel zu verschmähen, in dessen unrechtmäßigen Besitz ich mich gebracht hatte. Als ich ihn aß, musste ich an Adam im Paradies denken, und es schien mir, als sei ich nun endgültig ein Verstoßener, von Sünde befleckt, ausgeschlossen aus der Gemeinschaft der Rechtschaffenen.
    In den folgenden Wochen wagte ich nicht mehr, eine Stadt zu betreten, ja, ich mied für längere Zeit jede menschliche Ansiedlung und führte ein so elendes Leben, dass ich im Rückblick kaum begreifen kann, wie ich dem Tod entkam. Ich schlief in den Wäldern, fror bitterlich in den kalten Stunden vor Sonnenaufgang, nährte mich von Pilzen, Beeren, Kräutern und am Ende selbst von Blättern. Mein wollener Kittel starrte vor Schmutz und zerfiel langsam zu Fetzen, so dass ich Mühe hatte, meine Blöße zu bedecken.
    Noch immer hielt ich mich in nördlicher Richtung, wanderte jedoch abseits der Straßen und floh stets ins Unterholz, wann immer ein Mensch mir entgegenkam, als sei ich ein Geächteter oder vom Aussatz gezeichnet. Ich erreichte Orte mit Namen wie Pagin und Uttensen, schließlich eine Stadt, die Kiele genannt wurde. Nirgends jedoch kehrte ich ein, durchschritt kein Stadttor und überquerte keinen Dorfplatz, betrat weder Markt noch Kirche, sondern schlich auf abseitigen Pfaden vorüber. Gelegentlich nutzte ich die Dunkelheit, um mich an einen abgelegenen Bauernhof heranzupirschen und Futter aus den Trögen der Tiere oder eine reife Frucht von einem Obstbaum zu stibitzen. Zuweilen blieb ich auch einfach vor einem Haus stehen, genoss die herausdringende Wärme, lauschte dem Knacken des Herdfeuers und den leisen Stimmen der Bewohner. Doch je mehr ich mich nach Nähe und Zuflucht sehnte, desto entschlossener vermied ich jede Begegnung und dachte nicht einmal daran, zu klopfen und ein Almosen zu erbitten.
    Bei einem der erlauschten Gespräche erfuhr ich, dass es in einiger Entfernung nordwestlich ein Kloster gab, das von den Einheimischen Walsrode genannt wurde. Ich hielt mich in der angegebenen Richtung, und dabei gelangte ich in einen so leeren und gottverlassenen Landstrich, dass ich mich nicht mehr verstecken musste, um ungesehen voranzukommen. Die Wälder wurden finster und wild, und hier und dort schimmerten mächtige, bemooste Feldsteine in ihrem Schatten. Schlecht befestigte Wege wanden sich über Hügel und durch Schluchten, und wenn die dichte Wand des Waldes einmal zurücktrat, machte sie nicht Wiesen oder Äckern Platz, sondern düsteren Brachflächen voller Heidekraut. Auch Moore lagen am Weg, aus deren dunstigen Weiten Wacholderbüsche aufragten wie gespenstische Schildwachen.
    Zwei Tage lang wanderte ich durch diese urtümliche Landschaft, ohne einem einzigen Menschen zu begegnen, dafür jedoch waren die Nächte erfüllt vom Röhren der Hirsche, dem Scharren der Wildschweine und dem schrillen Geschrei der Eulen. Zuweilen, wenn ich im Dunkeln unter den Bäumen lag und der kalte Herbstmond durch die Zweige schimmerte, verwünschte ich meinen Entschluss und erwog ernsthaft, den Rückweg anzutreten, nur um wieder den Schein erleuchteter Fenster in der Dunkelheit zu sehen oder irgendeiner Menschenseele zu begegnen.
    Mein Wunsch wurde erfüllt, jedoch – wie es im Leben so häufig der

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