Die Tränen der Vila
Fall ist – auf ganz andere Weise, als ich gehofft hatte. Es geschah eines Abends, als ich eine Schlucht durchwanderte, an deren Hängen sich windschiefe Tannen in den geröteten Himmel reckten. Die Straße war von Moos überwuchert, und in den kaum noch erkennbaren Radfurchen der wenigen Fuhrwerke, die hier jemals gefahren waren, stand schlammiges Wasser. An einer besonders engen Stelle der Klamm lag loses Astwerk quer über dem Weg, und ich musste hinübersteigen, so dass das Holz unter meinen Füßen knackte und knisterte. Als ich eben auf der anderen Seite angelangt war, bohrte sich etwas von hinten zwischen meine Schultern.
„Dreh dich nicht um!“
Ich erstarrte, und ein Schauder durchrieselte mich. Tagelang hatte ich keine Menschenstimme sprechen hören, und nun raunte jemand dicht an meinem Ohr wie ein Geist, der aus dem Schatten des Waldes aufgetaucht war.
„Heb die Arme, wenn dir dein Leben lieb ist!“
Ich gehorchte, und eine fremde Hand fuhr über meinen Kittel bis hinab zur Hüfte, als wollte der Unbekannte sich vergewissern, ob ich eine Waffe trug. Zugleich erkannte ich, dass der Gegenstand, der zwischen meine Schulterblätter gedrückt wurde, eine Messerspitze war.
„Zieh das Gewand aus.“ Die heisere, drohende Stimme flüsterte noch immer dicht an meinem Ohr. „Und dreh dich nicht um, sonst wirst du sterben.“
Ich fasste mit beiden Händen meinen Kittel, streifte ihn über den Kopf und ließ ihn in den Schlamm fallen. Nackt stand ich da, zitternd vor Kälte und Angst.
„Nichts!“, rief die heisere Stimme, nun offenbar nicht mehr an mich gewandt. „Nicht einmal ein Beutel!“
Irgendwo in größerer Entfernung antwortete eine zweite Stimme, deren Worte ich nicht verstehen konnte.
„Was nun? Soll ich ihn abstechen?“, rief der Mann hinter mir.
„Nein“, antwortete die zweite Stimme nun vernehmlicher. „Wahrscheinlich ist es ein Pilger auf dem Weg zum Kloster.“
Erst jetzt begriff ich, dass ich in eine planmäßig angelegte Falle getappt war. Das Bruchholz hatte nicht zufällig den Weg versperrt. Die Wegelagerer mussten es absichtlich hierher gelegt haben, damit sie sich ungehört heranschleichen konnten, während ihr ahnungsloses Opfer das knisternde Astwerk überstieg. Offenbar waren es mehrere Männer, denn nun hörte ich, wie drei oder vier Stiefelpaare sich mir von hinten näherten.
„Wir sollten ihn abstechen, sage ich!“, raunte der Mann mit dem Messer. „Vielleicht hat er sein Geld verschluckt, und wir finden ein paar Münzen in seinen Gedärmen.“
„Bitte, ihr Herren!“, rief ich in Todesangst. „Ich habe kein Geld! Ich schwöre es bei der Heiligen Jungfrau.“
Die Männer hatten sich hinter mir versammelt und betrachteten mich nun aus der Nähe: einen elfjährigen Jungen, halb verhungert und nackt, dessen hoch erhobene dürre Arme zitterten.
„Das ist ja noch ein Kind!“, sagte der zweite Mann. „Du wirst doch kein Kind töten, Herbort.“
„Warum sagst du meinen Namen?“, rief der Mann mit dem Messer wütend. „Jetzt hat er meinen Namen gehört! Er muss sterben, sonst wird er uns verraten!“
„Nur die Ruhe“, sagte die vorige Stimme beschwichtigend. „Wir töten keine Christenmenschen, das weißt du. Nur Juden und Wenden.“ Der Mann näherte sich mir. „Woher kommst du?“
„Aus Brunsvik, Herr“, antwortete ich bebend vor Angst.
„Pilger?“
„Nein, Herr. Nur ein armer Bursche, der Zuflucht und etwas zu essen sucht.“
Die Männer schwiegen einen Moment. Dann wandte sich der Mann mit der ruhigen Stimme, offensichtlich der Anführer, an seine Gefolgsleute. „Er hat keinen Heller, sonst wäre er nicht halb verhungert. Lassen wir ihn gehen.“
Zustimmendes Gemurmel erhob sich im Hintergrund.
„Aber er hat meinen Namen gehört!“, schrie der Kerl mit dem Messer und packte mich von hinten unter den Achseln, während ich erneut die Klinge in meinem Nacken spürte. „Ich werde ihn nicht gehen lassen!“
„Irgendwelche Vorschläge?“, wandte sich der Anführer an seine Männer.
Eine Zeitlang wurde getuschelt, und ich begriff, dass die Räuber beratschlagten. Mit klopfendem Herzen stand ich da, spürte die Klinge im Nacken und den starken, haarigen Arm des mordlüsternen Gesellen über meiner Brust. Ich konnte seinen Atem spüren, der rasch und heiß über meine nackte Schulter strich. Endlich wandte sich der Anführer erneut an seine Truppe.
„Wir nehmen ihn mit. Lass ihn los, Herbort!“
Es dauerte einen Moment, bis der Kerl, der
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