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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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mich umklammert hielt, sich zur Befolgung dieser Anweisung durchringen konnte. Als ich endlich spürte, wie der Druck der Messerklinge nachließ, dehnte sich meine Brust zu einem erleichterten Seufzen.
    „Verbindet ihm die Augen, damit er den Weg nicht sieht!“, ordnete der Anführer an.
    „Halt still, Junge“, sagte einer der Männer, trat hinter mich und zog einen schmutzigen Stofflumpen über mein Gesicht, um ihn am Hinterkopf fest zusammenzuknoten. Dann ergriff jemand meinen Arm, drehte mich herum und schob mich mit sanfter Gewalt vorwärts.
    Die Männer führten mich längere Zeit quer durch den Wald, und ich spürte Tannennadeln unter den Füßen, während Zweige meine Haut streiften. Noch immer war ich gänzlich nackt, und Kälte und Angst ließen mich zittern. Irgendwann jedoch hörte ich das leise Rauschen eines Bachs, das Knarren einer Tür und das trockene Knirschen von Lederstiefeln auf gestampftem Lehmboden. Wärme schlug mir entgegen, und der Schein eines Feuers drang durch den schmutzigen Lumpen, der meine Augen bedeckte.
    „Setz dich da hin!“
    Ich ertastete eine Wand in meinem Rücken, die aus rohen Bruchsteinen bestand, ließ mich nieder und spürte Stroh unter den Schenkeln.
    „Die Binde kannst du jetzt abnehmen.“
    Ich tastete nach dem Knoten in meinem Nacken, löste den Stofffetzen und blinzelte ins Halblicht einer geräumigen Hütte. Ihre Wände waren aus Stein, die Decke jedoch ein Balkenwerk aus brüchigem Holz, das an einigen Stellen eingebrochen war. Durch eine der Spalten lugte der Vollmond und warf silbriges Licht auf die geborstenen Dachsparren. In einem seitlich angebauten Kamin brannte ein Feuer. In der Mitte des einzigen Raums, den die Wände umschlossen, lag ein mächtiger Mühlstein am Boden – und ich erriet, dass der Ort, an dem ich mich befand, einst eine Wassermühle gewesen sein musste.
    Die Männer hatten sich rund um den Mühlstein niedergelassen wie an einem Tisch, während durch eine Seitentür eine Frau erschien, die mehrere übereinandergestapelte Holzschüsseln in den Händen trug.
    „Beim heiligen Jakobus!“, rief sie, als sie mich bemerkte, und ich schlang erschrocken die Arme um die Knie, um meine Blöße zu bedecken. „Was habt ihr denn da mitgebracht?“
    Sie trat näher, so dass der Schein des Kaminfeuers auf sie fiel. Die Frau mochte etwa dreißig Jahre zählen, war groß und von üppiger Statur. Ihr dichtes braunes Haar unter der Haube war schmutzig und verfilzt, und ihre splittrigen Fingernägel zeigten schwarze Ränder. Sie trug ein rotes Kleid aus gutem Wolltuch, das um Brust und Hüften deutlich zu eng war und auch im Übrigen nicht recht zu ihrer vernachlässigten Erscheinung passte.
    „Kein Glück heute“, antwortete die ruhige Männerstimme, und nun erblickte ich auch ihren Besitzer: einen breitschultrigen, schwarzbärtigen Mann, der einen Filzhut trug und einen Dolch im Gürtel. „Nur den Jungen haben wir aufgegriffen. Kein Reisebündel, kein Geld.“
    „Nicht einmal das Gewand ist etwas wert“, sagte ein zweiter Mann, dessen heisere Stimme ich wiedererkannte: Es war derselbe, der mich von hinten gepackt und mir sein Messer in den Nacken gedrückt hatte. Er war ein hagerer Geselle mit unangenehm stechenden Augen, dessen stark behaarte Arme in seltsamem Gegensatz zu seinem schütteren Kinnbart standen. Er hielt meinen Kittel in die Höhe, den ich auf Anweisung der Räuber ausgezogen hatte.
    „Das taugt allenfalls als Putzlumpen.“
    Er warf ihn zu Boden, während die übrigen Männer – vier an der Zahl – lauthals lachten.
    Die Frau lachte nicht, sondern betrachtete mich aufmerksam. „Warum hast du ihn mitgebracht, Bertolt?“
    Der Räuberhauptmann zuckte mit den Achseln. „Vielleicht können wir ihn brauchen.“
    „Ihn brauchen – wofür?“, zischte der hagere Geselle neben ihm. „Als Köder für die Wildschweine?“
    Wieder lachten die Männer, die Frau jedoch bückte sich und hob den schmutzigen Kittel vom Boden auf.
    „Ich werde den Kittel waschen“, sagte sie ernst. „Er kann doch nicht nackt herumlaufen.“
    Dann ging sie zu dem Mühlstein, der als Tisch diente, und stellte die Holzschüsseln ab, aus denen ein würziger Geruch aufstieg. Sogleich machten sich alle sechs Männer über das Essen her – und ich in meiner Ecke, ungläubig und mit schmerzhaft gebeuteltem Magen, roch Wildbret.
    „Er ist ja halb tot vor Hunger“, sagte die Frau, die sich erneut mir zugewandt hatte. „Ich hole ihm auch etwas.“
    „Tu das,

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