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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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mich von sich. „Bringt den Jungen zurück ins Verlies“, wandte er sich an seine Truppe. „Ich muss meinem Vater Bericht erstatten.“

Wie die Lose geworfen wurden
    Man brachte mich zurück in die unterirdische Grube, wo mich meine Mitgefangenen sogleich zu einem ausführlichen Bericht über das Vorgefallene nötigten. Vor allem Hartmann lauschte mir aufmerksam und mit wachsender Besorgnis.
    „Das klingt gar nicht gut“, sagte er, als ich geendet hatte. „Offenbar waren wir nur eine Handbreit vom Friedensschluss entfernt, aber der Erzbischof hat die Sache mit seinem Ausbruch platzen lassen. Jetzt können wir nur hoffen, dass die anderen Fürsten ihm zum Trotz weiterverhandeln – und dass Niklot über den Vorfall nicht allzu sehr gekränkt ist.“
    „Ja, hoffen wir es“, pflichtete Walfried ihm bei. „Dann besteht vielleicht die Aussicht, dass wir hier herauskommen, bevor wir am Gestank unserer eigenen Ausscheidungen ersticken.“
    Leider erwies sich diese Hoffnung als vergeblich. Wir diskutierten noch bis zum Mittag über die möglichen Folgen der gescheiterten Verhandlung, als wir das Nahen von Schritten vernahmen. Über dem Rand der Grube erschien Pribislav in Begleitung mehrerer Männer, unter ihnen ein graubärtiger Greis, der einen Lederbeutel trug.
    „Junge!“, rief Pribislav zu mir herab. „Übersetze deinen Freunden dort unten, was ich ihnen zu sagen habe! Mein Vater hat beschlossen, die beleidigende Zurückweisung seiner Friedensbemühungen in der angekündigten Weise zu vergelten. Er ist jedoch gnädig und hat bestimmt, dass ihr nicht allesamt sterben sollt. Stattdessen wird einer von euch ausgewählt, und zwar nach alter Tradition durch das Los. Der Ausgewählte wird morgen bei Sonnenaufgang unserem Gott Svarozic zum Opfer gebracht.“
    „Was sagt er?“, drängte Hartmann, als ich vor Entsetzen stumm zu Pribislav hochstarrte. Alle Gefangenen im Verlies, selbst die Dänen, schienen an meiner Miene abzulesen, dass etwas Schreckliches bevorstand. Acht bleiche und verstörte Gesichter waren auf mich gerichtet, und so begann ich stockend, die Botschaft zu verkünden.
    „Heilige Jungfrau“, flüsterte Walfried, während Humbert sich bekreuzigte. Hartmann starrte zu Boden und schüttelte ungläubig den Kopf.
    „Was sagt der Wende?“, radebrechte einer der dänischen Gefangenen, dem die Angst deutlich ins Gesicht geschrieben stand. Bislang hatten die Dänen nie ein Wort mit uns gewechselt; nun jedoch, alarmiert durch unsere offensichtliche Bestürzung, drängten sie heran und umringten uns. Ich wiederholte Pribislavs Botschaft, sehr langsam und unter Verwendung der wenigen dänischen Worte, die ich inzwischen kannte.
    „Die Auslosung findet sofort statt“, rief Pribislav zu uns herab. „Nehmt diese Hölzer!“
    Eine Handvoll rechteckiger Holzstückchen regnete durch das Gitter herab, alle von gleicher Größe und Form. Sie fielen in der Mitte des Verlieses auf den Boden, und die Männer wichen zurück und drückten sich an die Wände. Ich blickte hinauf und sah, wie der graubärtige Mann – vermutlich der Opferpriester – den Lederbeutel hinterherwarf, den er in der Hand gehalten hatte.
    „Einer von euch muss die Lose in den Beutel füllen und ihn herumreichen“, rief Pribislav.
    Ich bemerkte, dass ich zitterte, und musste mich sehr zusammennehmen, um die Anweisung zu übersetzen.
    „Das darf nicht wahr sein“, flüsterte Hartmann, der die Augen mit der Hand bedeckte. „Verdammte Heiden …“
    Ratlos saßen wir im Kreis, und jeder vermied es, die anderen anzusehen. Offenbar wollte keiner den Anfang machen und die Holzstücke einsammeln, um die makabre Verlosung zu leiten. Die Spielregeln jedenfalls waren einfach und klar: Es waren neun Holzstückchen, die vor uns am Boden lagen, sauber geschnittenes Kernholz von heller Farbe – nur ein einziges zeigte einen schwarzen Fleck, als hätte man es über eine Kerzenflamme gehalten.
    „Nun macht schon!“, rief Pribislav ungeduldig.
    Zunächst hatte ich erwartet, dass es Hartmann sein würde, der den Beutel ergriff und die schreckliche Pflicht auf sich nahm. Doch nicht er regte sich plötzlich, sondern Erik, der bisher im Gegensatz zu seinen Landsleuten verschlossen und unbeteiligt gewirkt hatte. Nun trat er vor, ließ sich in der Mitte des Verlieses nieder, klaubte die Holzstücke zusammen und ließ sie eins nach dem anderen in den Beutel fallen. Dann schüttelte er das Behältnis, um die Lose im Innern zu mischen, und bei diesem

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