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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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Blick.
    Hartmann seufzte tief. „Dies ist die Stunde“, sagte er. „Ich schulde dir das Leben deines Vaters – und ich versprach dir, meine Schuld zu bezahlen, wenn die Gelegenheit kommen würde. Also gib schon das Los her, bevor mich der Mut verlässt.“
    Ich bemerkte, dass seine Hand zitterte; sein Gesicht jedoch war verschlossen und reglos, als ob er sich unter größter Anspannung beherrschte.
    „Herr“, stammelte ich, kaum fähig, den Sinn seiner Worte zu begreifen. „Ihr könnt doch nicht … Ihr wollt doch nicht …“
    Hartmann packte mit beiden Händen meine geschlossene Faust, zog das Holzstück mit dem schwarzen Fleck hervor und nahm es an sich. Einen Augenblick drehte er es nachdenklich zwischen den Fingern.
    „Vielleicht hatte ich doch unrecht“, murmelte er. „Gott ist näher, als ich dachte. Womöglich hat er die Dinge so gefügt, um mir Gelegenheit zur Sühne zu geben.“
    Ich fühlte, wie meine Beine schwach wurden und mir Tränen in die Augen stiegen. „Ihr wollt an meiner Stelle gehen?“, begriff ich endlich.
    Hartmann mied meinen Blick, seufzte tief und umschloss das Los mit der Faust. „Glaub ja nicht, dass es mir leichtfällt. Ich hänge am Leben, weißt du? Ich bin vierundvierzig Jahre alt und für einen Mann meines Alters bei guter Gesundheit, abgesehen von dem verfluchten Bein. Ich liebe diese Welt, auch wenn es in ihr wenig Gutes gibt – aber es gibt schmackhaftes Essen, guten Wein und Frauen mit roten Mündern und runden Hüften …“ Auch ihm kamen die Tränen, zum ersten Mal, seit ich ihn kannte. „Aber sei’s drum; ich stehe zu meinem Wort. Man mag mir nachsagen, ich sei ein Soldkämpfer, ein Säufer, ein schlechter Christ – es kümmert mich nicht. Niemand aber soll mir nachsagen, ich hätte mein Wort nicht gehalten.“
    „Herr!“, rief ich – und außerstande, länger an mich zu halten, umarmte ich ihn. In diesem Moment sah ich ihn nicht mehr als Mörder meines Vaters, sondern begriff, dass mein Vater in seiner Gestalt zu mir zurückgekehrt war. Umso weniger wollte ich ihn loslassen und schluchzte verzweifelt, als er mich von sich schob.
    „Sieh zu, dass du hier herauskommst“, flüsterte er. „Nimm dein Mädchen und flieh! Wenn es einen Gott gibt, möge er dich segnen.“
    Schon knarrte die Falltür über uns; die Klappe wurde geöffnet und eine Leiter herabgelassen. Hartmann setzte einen Fuß auf die unterste Sprosse und reckte die Arme.
    „Helft mir!“, rief er nach oben. „Ich habe ein verletztes Bein.“
    Offenbar verstanden die Wenden, denn sie ließen sich am Rand der Öffnung nieder, packten Hartmanns Hände und hievten ihn hinauf. Ich stand wie betäubt am Fuß der Leiter und sah zu, wie die Falltür geschlossen und Hartmann zum Rand der Grube geführt wurde. Pribislav nahm das schwarze Los aus seiner Hand entgegen und nickte dem Priester zu. Dieser band meinem Herrn mit einem Hanfstrick die Hände auf den Rücken. Dann entfernte sich die gesamte Gruppe aus meinem Gesichtsfeld.
    Lange Zeit stand ich reglos, während mir die Tränen flossen. Ich achtete nicht auf die anderen, die mich anstarrten – einige mit verhohlener Betroffenheit, andere gleichgültig. Irgendwann trat ich rückwärts und ließ mich an der Wand zwischen den beiden Sachsen nieder.
    Totenstille herrschte im Verlies, nicht einmal die Dänen regten sich. Erst nach einer Weile wagte Walfried das Wort an mich zu richten.
    „Warum hat er sich für dich geopfert?“, fragte er. „Ein Ritter für seinen Knappen?“
    Ich antwortete nicht. Innerlich war ich weit fort und fühlte mich noch leerer und betäubter als in jenem Moment, da ich selbst das Todesurteil empfangen hatte.
    „Ein edler Mann“, sagte Humbert leise.
    „Wir sollten für ihn beten“, meinte Walfried. „Lasst uns beten, dass es schnell geht und er nicht unnötig leiden muss.“
    Humbert regte sich unbehaglich. „Ich habe gehört, dass die Wenden ihren Opfern erst Arme und Beine abschlagen und zuletzt den Kopf …“
    Diese Worte durchdrangen meine Stumpfheit, und ich schauderte so heftig, dass mir die Glieder schlotterten.
    „Still!“, zischte Walfried zu Humbert hinüber. „Siehst du nicht, wie es dem armen Jungen geht?“
    Wieder verstummten beide, bis Humbert erneut das Wort ergriff. „Er wird ein Märtyrer werden. Vielleicht wird die heilige Kirche ihn selig sprechen …“
    „Haltet den Mund!“, fuhr ich auf, so dass beide mich erschrocken anblickten. Ich begriff wohl, dass Humberts Worte tröstlich

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