Die Tränen der Vila
Schleier sah ich das Gesicht des Dänen, der den Beutel hielt. Sein Mund verzog sich zu einer Grimasse, die ein Grinsen darstellen mochte, vielleicht verächtlich, vielleicht von grausamer Genugtuung erfüllt. Als ich mich nicht regte, kam er mir zuvor, löste seine rechte Hand von der Öffnung des Beutels, steckte sie hinein – und zog ein Los hervor.
Es war weiß.
Ich spürte, wie Hartmann neben mir keuchend die Luft einzog. Auch alle anderen verharrten mit stockendem Atem, den Blick auf mich gerichtet.
„Odo … nein!“, hörte ich Hartmann seufzen.
Da ich zu keiner Bewegung fähig war, stülpte Erik den Beutel kurzerhand um und schüttelte das letzte Los heraus. Es fiel vor meine Füße. Und da war der schwarze Fleck – ein Fleck wie eine Brandwunde, ein Kainsmal, ein Fingerabdruck des Teufels. Er schien vor meinen Augen zu wachsen, sich auszudehnen und anzuschwellen, bis er mein ganzes Gesichtsfeld einnahm und mich in Finsternis hüllte.
„Betrug!“, flüsterte Hartmann plötzlich. Und dann noch einmal, laut aufschreiend: „Betrug! Dieser verfluchte dänische Falschspieler! Er hat das schwarze Los die ganze Zeit in der Hand gehabt!“
Ich blickte auf, wie aus einem bösen Traum geweckt. Erik stand vor mir, noch immer jenes boshafte Grinsen im Gesicht – und es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Natürlich! Erik war ein begnadeter Betrüger. Hatten wir nicht beobachtet, wie er beim Spiel mit seinen Kameraden einen gezinkten Würfel in der linken Hand verborgen hatte? Nun fiel mir auch eine verdächtige Bewegung ein, als er die Holzstückchen aufgesammelt und in den Beutel geworfen hatte. Offenbar hatte er das schwarze Los in der Hand verborgen, mit der er den Beutel bei der Öffnung fasste. Alle hatten weiße Lose gezogen, weil nur solche im Beutel gewesen waren – erst nachdem das letzte an ihn selbst gegangen war, hatte er unauffällig die Finger geöffnet und das schwarze Los hineingleiten lassen, damit es für mich übrig blieb.
Warum ich? Ohne Zweifel, weil ich der Geliebte Lanas war. Ich hatte seinen Hass unterschätzt, seine Eifersucht, seine List. Er hatte einen Weg gefunden, mich dem Tod zu überantworten.
„Elender Schuft!“, zischte Hartmann, stemmte sich an der Wand hoch und machte Anstalten, sich auf Erik zu stürzen. Doch sein steifes Bein versagte ihm den Dienst. „Tod und Teufel über dich, du dänischer Hund!“
Erik hob drohend die Faust und fauchte etwas auf Dänisch, das ich nicht verstand.
„Schluss mit der Streiterei!“, rief Pribislav von oben. „Schickt denjenigen mit dem schwarzen Los herauf, und zwar sofort!“
„Odo!“ Hartmann packte mich beim Arm. „Es war Betrug! Sag den Wenden, dass der Däne uns betrogen hat!“
„Sie werden Euch nicht zuhören“, murmelte Walfried.
„Wir losen noch einmal!“, schrie Hartmann wütend, griff nach dem Beutel und wandte sich in die Runde.
Doch niemand im Verlies erwiderte seinen Blick, auch Walfried und Humbert nicht. Alle waren davongekommen, und keinem stand der Sinn danach, sein Glück ein zweites Mal auf die Probe zu stellen.
„Du musst gehen, Junge“, sagte Walfried.
„Nein!“, schrie Hartmann, und diesmal verlieh der Zorn ihm die Kraft, auf die Füße zu kommen und sich Erik entgegenzuwerfen. Dieser jedoch wich mit Leichtigkeit aus und stieß ihm den Ellbogen ins Kreuz, so dass er der Länge nach hinschlug. Sofort umringten die Dänen Erik wie eine Leibwache und zogen ihn in ihre Ecke des Verlieses, wo er sich mit zufriedenem Grinsen niederließ.
Dies bewog mich, dem Streit ein Ende zu machen, bevor Schlimmeres geschah. Gewiss hätte ich Pribislav sagen können, dass Erik uns betrogen hatte – doch hätte er mir Glauben geschenkt? Vermutlich flehte jeder, den das Los zum Tod verurteilte, unter allen möglichen Ausflüchten um sein Leben. Es war sinnlos, sich aufzulehnen.
Das seltsame Gefühl der Betäubung wollte nicht aus meinen Gliedern weichen, doch ich stellte fest, dass ich sie bewegen konnte, etwa wie ein Schausteller auf dem Jahrmarkt eine Gliederpuppe bewegt. Ich streckte die Hand aus, ergriff das schwarze Los und stand auf.
„Warte!“, keuchte Hartmann, der sich soeben mühsam erhob. „Du gehst nicht.“
„Ich muss gehen, Herr“, hörte ich mich selbst sagen.
Hartmann hinkte auf mich zu und sah mir mit einem Ausdruck kalter Entschlossenheit ins Gesicht.
„Du gehst nicht, Odo“, wiederholte er und streckte die Hand aus. „Gib mir das Los.“
Verwirrt erwiderte ich seinen
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