Die Tränen der Vila
Geräusch lief jedem in der Runde ein Schauder über den Rücken. Eriks Miene jedoch blieb ausdruckslos, als sei er über jede Furcht erhaben.
„Als ob man nicht schon genug Gründe hätte, den Kerl zu hassen“, flüsterte Hartmann so leise, dass nur ich es hören konnte.
Nun ergriff der Däne mit beiden Händen die Öffnung des Beutels und zog das Leder auseinander, so dass zwischen seinen Fingern eine dunkle Höhlung entstand. Unwillkürlich musste ich an den Schlund eines Untiers denken, mit zwei gebleckten Zahnreihen oberhalb und unterhalb des aufgerissenen Rachens.
Erik begann bei seinen Landsleuten, die sich erschrocken an die Wand kauerten. Der Erste, dem er den Beutel hinhielt, zitterte so sehr, dass er kaum die Hand ruhig halten konnte. Endlich zog er eines der Holzplättchen hervor, wagte jedoch nicht hinzusehen – bis das Ausbleiben eines allgemeinen Stoßseufzers ihn überzeugte, dass er Glück gehabt hatte. Aufatmend ließ er sich zurückfallen und barg das Holzstück an seiner Brust.
Der nächste der Dänen war mutiger, griff beherzt in den Beutel, zog mit einem entschlossenen Ruck sein Los – und war ebenfalls frei. Der dritte fingerte lange und mit nervös bebenden Lippen; am Ende jedoch war auch sein Los von makellosem Holz. Der vierte brauchte eine scheinbar endlose Zeit, da er ein Gebet murmelte und nicht zugreifen wollte, bis er zum „Amen“ gekommen war und sich mit der freien Hand bekreuzigt hatte. Dann zog auch er sein Holzstück – und, sei es infolge des erbetenen Beistands oder durch Zufall, es war weiß.
Vier Dänen waren gerettet; vier Sachsen harrten des Schicksals. Erik kam herüber auf unsere Seite des Verlieses, den Beutel in den Händen. Er hielt ihn Humbert hin. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich der Letzte sein würde, wenn Erik der Ordnung folgte, in der wir uns an der Wand aufgereiht hatten. Wahrlich, ich wünschte keinem Menschen Unheil – und doch ertappte ich mich bei der verzweifelten Hoffnung, dass ein anderer vor mir das schwarze Los zog und der Bedrängnis ein Ende machte. Jeden Moment mochte es geschehen: ein Stöhnen, ein Aufschrei, und alles wäre vorbei.
Doch nichts dergleichen geschah. Humbert zog sein Los, und es war weiß. Noch vier Holzstückchen waren nun in dem Beutel, und eines davon war das mit dem schwarzen Fleck.
Walfried war der Nächste. Gewöhnlich wirkte er wie ein Mann, den nichts erschüttern konnte; nun jedoch war er ebenso erregt wie alle anderen. Er wandte das Gesicht ab, führte die Hand langsam in den Beutel und verharrte zitternd, bis er endlich ruckartig zugriff, ganz wie ein Adler, der auf seine Beute herabstößt. Das erste Holzstück, das seine Finger fanden, zog er hervor und ließ sich lange Zeit, bis er es anzusehen wagte – während wir anderen längst erkannt hatten, dass es weiß war.
Ich schluckte und stellte fest, dass meine Kehle trocken war wie ein Brachfeld in der Julisonne. Drei Lose noch – und eines davon zeigte den schwarzen Fleck. Mein Herr war der Nächste. Einen von uns dreien musste es treffen: ihn, mich oder Erik.
Hartmann war erstaunlich gefasst. Ohne Zögern steckte er die Hand in den Beutel.
„Gott“, murmelte er. „Ich weiß, dass es dich nicht kümmert, was mit uns Sterblichen geschieht. Du bist fern in deinem Himmel, aber nirgendwo auf dieser Welt, schon gar nicht bei uns Menschen. Deshalb ist es ganz gleich, welches Los ich wähle … ganz gleich.“
Und nach dieser Parodie eines Gebets, die jeden Priester hätte erbleichen lassen, zog er langsam sein Holzplättchen hervor. Es war weiß.
Ohne sichtbare Regung lehnte er sich zurück. Er hatte Gott herausgefordert, ihm die Stirn geboten – doch keine Strafe kam über ihn, kein Dornbusch ging in Flammen auf, keine Stimme sprach aus einem Wettersturm. Das unverdiente Glück schien ihm recht zu geben: Gott war fern.
Ähnliches ging auch mir durch den Kopf, als Erik weiterrückte und die Reihe an mich kam. Es war sinnlos, zu beten oder zu hoffen. Ich war ganz allein, keine Muttergottes, keine Engel oder Heiligen waren bei mir. Stattdessen gab es nur den dunklen Rachen des geöffneten Beutels – und Erik, der mich mitleidlos anstarrte.
„Macht schon!“, rief Pribislav vom Rand der Grube. Seine Stimme schien mir meilenweit entfernt.
Ich hob die Hand, zitterte, spürte, wie die Muskeln mir den Dienst versagten. Mein Herz schlug wie eine Trommel in meiner Brust; meine Hand jedoch war erstarrt, als gehörte sie einem anderen. Wie durch einen
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