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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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müde geschrien, und die Männer zogen sich von dem großen Mühlstein zurück, um sich auf Strohhaufen an den Wänden des Raums zum Schlafen niederzulegen. Einige schnarchten bereits, als Hildegard das Geschirr einsammelte und sich vor dem Kamin niederließ, um das Feuer zu löschen.
    „Schlaf nur, Junge“, sagte sie, indem sie sich kurz zu mir umwandte – und als hätte ich nur auf eine solche Erlaubnis gewartet, sank mir der Kopf auf die Knie, und ich döste ein.
    Die nächsten Tage verbrachte ich im Haus und tat wenig anderes, als zu schlafen und zu essen. Nun erst, da ich Obdach gefunden hatte, schien mein jugendlicher Leib die Strapazen der wochenlangen Wanderung recht zu spüren, und ich war kaum in der Lage, aufzustehen und den Unterschlupf zu verlassen, um draußen meine Notdurft zu verrichten.
    Das Haus stellte sich tatsächlich als eine uralte Wassermühle heraus. Sie lag an einem Bach, der ein tiefes Klammtal zwischen zwei Hügeln derart eingekerbt hatte, dass das Gebäude vom Umland aus nicht zu sehen war. Ringsum dehnte sich weglose Wildnis, und der Wald war so dicht, dass ein Wanderer das verfallene Haus erst entdeckt hätte, wenn er wenige Schritte davorstand – ein vorzügliches Versteck für eine Räuberbande.
    Die sechs Männer zogen täglich am frühen Nachmittag zu ihren finsteren Geschäften aus und kehrten erst spät in der Nacht heim, so dass ich die meiste Zeit mit Hildegard allein war. Bewachung schien man angesichts meines Zustands für unnötig zu halten, und tatsächlich wäre ich nicht im Entferntesten auf die Idee gekommen, das Haus zu verlassen und in die Wälder zu fliehen. Selbst Hildegard ließ mich oft allein, um Pilze zu sammeln, Wasser zu schöpfen oder sich um zwei Ziegen und ein Pferd zu kümmern, die in einem Verschlag an der Rückseite der Mühle standen. Zweimal am Tag brachte sie mir etwas zu essen, und es war bessere und kräftigere Nahrung, als ich sie jemals zu mir genommen hatte. Darüber hinaus hatte sie meinen Kittel geflickt und mir lederne Schuhe nebst einem Gürtel gebracht, so dass ich nun gewandet war wie ein freier Städter oder Handwerksbursche.
    Die Männer schenkten mir anfangs wenig Aufmerksamkeit. Wenn sie von ihren Streifzügen zurückkehrten, beschäftigten sie sich zumeist mit der Verwertung der Beute – und diese bestand keineswegs immer aus Raubgut. Oft brachten sie erlegte Tiere heim, einen Hasen zum Beispiel oder ein Reh, woraus ich schloss, dass sie einen guten Teil ihres Unterhalts durch Jagd bestritten. Erst später erfuhr ich, dass sie auch Fallgruben aushoben und darüber hinaus Schafe stahlen, denn auf den Heiden im Umkreis lebten Schäfer mit großen Herden. Ein guter Teil der Beute wurde geräuchert und an den Deckenbalken als Vorrat für den Winter aufgehängt; den Rest verkauften die Räuber, als fahrende Händler verkleidet, auf dem Markt einer nahen Stadt namens Hermannsburg.
    Ein- bis zweimal in der Woche brachten sie jedoch andere Beute heim: Silbermünzen, kostbare Gewänder oder Schmuck, die sie einsamen Reisenden auf der Waldstraße abgenommen hatten. Soviel ich verstand, töteten sie ihre Opfer nie, sondern traten von hinten an sie heran und zwangen sie, Kleidung und Gepäck abzulegen, wie sie es auch bei mir getan hatten. Geld und Silbersachen horteten sie, während Waffen und Kleidung innerhalb der Gruppe verteilt oder zum Verkauf bestimmt wurden. Nicht selten entbrannten Streitigkeiten um den Besitz verschiedener Beutestücke, doch Bertolt teilte gerecht und setzte seine Vorstellungen durch, in der Regel durch gutes Zureden, nötigenfalls mit der Faust.
    Nach der Aufteilung der Beute ließen sich die Männer stets um den runden Mühlstein nieder, genossen Speise und Trank, die Hildegard ihnen auftrug, und zechten bis zum frühen Morgen. Ich muss gestehen, dass ich ihre eigentümliche Lebensweise zwar mit Befremden, aber auch mit einer gewissen Bewunderung wahrnahm. Im Gegensatz zu den Bauern in meiner Heimat hatten sie stets genug zu essen, leisteten keinem Grundherrn Abgaben und waren so frei, wie es gewöhnlich nur Männern von Adel anstand.
    Meine Bewunderung wich jedoch schlagartig nackter Angst, als ich erstmals genötigt wurde, vom Zuschauer zum Mittäter zu werden. Eines Morgens nämlich beschloss Bertolt, dass ich mich ausreichend erholt hätte und meinen Teil zum Unterhalt der Gruppe beitragen sollte.
    „Heda, Junge!“, rief er mich an, während er seinen Hut aufsetzte und den Dolch in den Gürtel steckte. „Du

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