Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
Vom Netzwerk:
bärtigem Gesicht. Es handelte sich um ein Amulett, das Abbild eines persönlichen Schutzgeistes, wie viele Wenden es bei sich tragen oder unter der Türschwelle ihres Hauses vergraben – und es war im unteren Drittel abgebrochen.
    Diese Bruchstelle kannte ich so gut wie nichts anderes auf der Welt, denn das fehlende Stück der Figur trug ich seit beinahe zwei Jahrzehnten in einem Lederbeutel über meinem Herzen. Es war das einzige Erinnerungsstück, das mir von meiner Geliebten geblieben war, und unzählige Male hatte ich es in einsamen Momenten in der Hand gewogen, es liebkost und sogar mit meinen Tränen benetzt.
    Bis heute, mein Sohn, weißt du nichts von diesem fehlenden Stück, denn ich habe es vor dir verborgen. Wenn ich jedoch gestorben bin und du diese Zeilen liest, wirst du es hinter dem losen Stein in der unteren Ecke des Kamins finden. Es soll dir als Beweis für die Wahrheit meiner Erzählung bürgen – und nun magst du es wieder an seinen ursprünglichen Platz fügen und den Schutzgeist heilen, dessen Körper einst zerteilt wurde und der mir bis heute ein Sinnbild für die gewaltsame Trennung zweier Liebender ist, denen kein gemeinsames Leben vergönnt war.
    So kamst du, mein Sohn, mit mir nach Sachsen und lebtest auf meinem kleinen Landgut in Reppenstede. Nie hast du mir verziehen, dass ich dich aus deiner Heimat fortbrachte. Nun aber magst du es verstehen: Dich an mich zu binden war der einzige Weg, das Todesurteil abzuwenden, das der Herzog über dich ausgesprochen hatte. Mich wiederum band der Diensteid an meinen Landsitz, den ich ohne Erlaubnis des Herzogs nicht verlassen durfte. Und da ich seit jener Zeit infolge meines gebrochenen Arms nicht mehr kriegsfähig war, musste ich dort bleiben und erhielt keine Gelegenheit mehr, jenes Land wiederzusehen, an dem unser beider Sehnsüchte hingen.
    Es dauerte lange, bis du mir so weit vertrautest, dass ich dich nach dem Schicksal deiner Mutter fragen konnte. Den Grund meines Interesses wagte ich dir nicht zu eröffnen, denn ich spürte, dass dein Hass gegen mich wie gegen alle Christen unversöhnlich war. Du erzähltest, du seist in einem kleinen Dorf an der Küste der Ostsee zur Welt gekommen. Deine Mutter, die auf der Flucht dorthin verschlagen worden sei, habe allein gelebt und niemals geheiratet. Sie sei eine kleine, doch schöne Frau gewesen, nachdenklich und still, mit früh ergrautem Haar und einem Ausdruck beständiger Trauer auf dem ernsten Gesicht. Als du herangewachsen warst, ahntest du die Ursache ihres Kummers und fragtest nach deinem Vater, denn du glaubtest, er sei vielleicht früh verstorben. Sie aber eröffnete dir, er sei ein sächsischer Knappe gewesen – doch dürftest du dies den Menschen im Dorf nie offenbaren.
    Du stelltest keine weiteren Fragen, denn dein Entsetzen war zu groß. Natürlich hattest du von den Kriegen zwischen Wenden und Sachsen gehört, kanntest auch manche, die daran teilgenommen hatten, und wusstest vom Kreuzzug, der neun Monate vor deiner Geburt stattgefunden hatte. Du zogst deine eigenen Schlüsse aus alldem und glaubtest, den Grund für die Schweigsamkeit deiner Mutter zu erraten: Sie war, wie du meintest, von einem Sachsen vergewaltigt worden; du selbst aber seist die Frucht dieser Schandtat. Und im Stillen legtest du einen Schwur ab, den Mann zu töten, der deiner Mutter Gewalt angetan hatte, solltest du ihm jemals begegnen.
    Als du von deiner Mutter getrennt wurdest, warst du fünfzehn Jahre alt. Zu jener Zeit unternahmen die Dänen einen Kriegszug an die wendische Küste, um Herzog Heinrich im Kampf gegen Pribislav zu unterstützen. Sie landeten unweit deines Heimatdorfes an der Küste, fanden das Dorf und richteten ein unbeschreibliches Gemetzel an. Du warst auf den Feldern gewesen und entkamst mit einigen anderen jungen Männern in die Wälder, doch wurdest du von deiner Mutter getrennt, während das Dorf niederbrannte. Du zweifeltest nicht daran, dass sie entweder getötet oder in dänische Gefangenschaft geraten war – und nun gelobtest du erst recht, die Christen zu bekämpfen und Rache zu nehmen.
    Die Dänen jedoch verfolgten eure kleine Gruppe, und so floht ihr weiter nach Süden, wo ihr als Heimatlose in den Wäldern lebtet und an den Straßen auf der Lauer lagt, um jeden zu überfallen und zu töten, den ihr an seiner Kleidung als christlichen Dänen oder Sachsen erkanntet. Verzweifelte wart ihr, der Vergeblichkeit eures Widerstands gewiss, doch umso entschlossener und bereit, für eure Sache zu

Weitere Kostenlose Bücher