Die Tränen der Vila
zurückzugewinnen. Wieder entflammte der Krieg, und im Juli des Jahres 1164 kam es zur Schlacht. In vorderster Reihe stand Graf Adolf von Holstein, erneut zum Kampf gegen seine einstigen Freunde gezwungen – und diesem Zwiespalt erlag er, denn obwohl er tapfer kämpfte und die erste Angriffswelle der Wenden überstand, rollte die zweite über ihn hinweg und ließ seinen Leib entseelt zurück. Als ich von seinem Schicksal erfuhr, trauerte ich, denn ich verstand nicht, warum Gott es gerade den Friedfertigen bestimmte, gegen ihren Willen das Schwert zu führen und schließlich durch das Schwert zu sterben.
Schon wenig später jedoch gab es Anlass zur Trauer in meinem engsten Umkreis, denn Hartmann, mein Herr, lag im Sterben. Er war inzwischen vierundsechzig Jahre alt und litt, wie einst mein Vater, an einem auszehrenden Husten, der nicht weichen wollte. Bereits seit Jahren hatte er das Haus nicht mehr verlassen, wechselte nur noch mühsam zwischen Tisch und Bett und brauchte zuletzt selbst hierbei meine Hilfe.
Ich war bei ihm in seiner letzten Stunde. Er war sehr schwach, und der Husten schüttelte seine eingefallene Brust, während er sich aufsetzte, um mir ins Gesicht zu sehen.
„Odo“, sagte er. „Du weißt, ich vertraue nicht auf die Vorsehung Gottes, und ich will nicht zwei Schritte vor dem Grab meinen Unglauben widerrufen. Das wäre feige. Dennoch erscheint mir eine einzige Begebenheit meines Lebens wie ein Zeichen Gottes: Er sandte mir dich.“
Ich schwieg, überwältigt von Rührung und Trauer.
„Ich habe keine Kinder – zumindest keine, von denen ich wüsste“, fuhr er fort. „Es ist möglich, dass ich hier oder dort auf meinen Reisen ein paar Bastarde gezeugt habe, doch ich weiß nichts von ihnen. Ehe und Familie sind mir verwehrt geblieben, vielleicht infolge meiner Scheu vor allzu fester Bindung. Nun aber bin ich alt und krank und brauche ebenjenen Schutz und jene Liebe, die ich früher so hochmütig verschmähte. Du hast mir beides gegeben, Odo. Du bist der Sohn, der mir zur rechten Zeit gesandt wurde, und hast mir die Familie ersetzt, die ich niemals gründen konnte. Immer wieder habe ich mich gefragt, ob dies ein Zufall oder womöglich doch der Wille Gottes war. Lange Zeit glaubte ich, es sei meine Pflicht und Schuld, dir den Vater zu ersetzen – und ich habe versucht, sie getreulich zu erfüllen. Doch statt eine ständige Mahnung für mein Gewissen zu sein, bist du mir zur Quelle der Freude und des Stolzes geworden. Vielleicht ist Gott gar kein strenger Richter … vielleicht führt er einfach Menschen zusammen, die einander brauchen, und womöglich ist es eben dies, was die Priester seine Gnade nennen.“ Ein Hustenanfall schüttelte ihn, doch als er schließlich weitersprach, war seine Stimme klar. „Da nun Gott so gut für mich gesorgt hat, wünsche ich mir nichts sehnlicher, als dass es dir ebenso ergehen möge. Ich werde dich bald verlassen müssen, doch ich hoffe, dass er auch dir die Menschen sendet, die du brauchst. Schon einmal ist dies geschehen – ich weiß, dass du es nicht vergessen hast, denn ich hörte dich oft im Schlaf sprechen. Noch immer denkst du an das wendische Mädchen, und ich bin sicher, dass es dir bestimmt war, mit ihr zusammenzutreffen. Du bist siebenunddreißig Jahre alt, doch nie hast du eine Ehefrau genommen. Ich ahne, dass du im Innern noch immer an jenes Mädchen gebunden bist, und wenn ich beten könnte – vergib mir, ich kann es nicht –, würde ich Gott bitten, dass er dich wieder zu ihr führt. Denk darüber nach, Odo, denn die Stunde wird kommen, da du ganz allein in der Welt stehst …“ Er wandte sich ab und drehte das Gesicht zur Wand. „Die Stunde wird bald kommen.“
Er sprach die Wahrheit, denn kurze Zeit später verschied er, an einem milden Abend im Herbst des Jahres 1164.
So verlor ich zum zweiten Mal meinen Vater und war nun in der Tat gänzlich allein. Hartmann wurde auf dem Friedhof des nahen Dorfes bestattet, wie es sein Wunsch gewesen war – nicht auf dem Klosterfriedhof St. Michaelis, obwohl Herzog Heinrich diese Ehre ausdrücklich angeboten hatte. Doch noch ein weiterer Punkt war zu klären, denn Hartmanns Lehen hatte nur auf Lebenszeit gegolten, und damit war der Besitz in Reppenstede einstweilen herrenlos. Diesen Zustand jedoch hob der Herzog kurzerhand auf, als er mich zum nächsten Hoftag einberief: Mit einem knappen Verweis auf meine treuen Dienste übertrug er mir den Gutshof und das dazugehörige Land mit allen Rechten
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