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Die Traenen Des Drachen

Titel: Die Traenen Des Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Bull-Hansen
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Wacholderbeeren zerreiben und mit Honig mischen, und dann würde sie sicher bald genesen.
    Doch Kirgit sollte es nicht mehr besser gehen. Als ich hereinkam, lag sie zusammengekauert unter der Decke am Feuer. Ich setzte mich zu ihr und spürte, wie sie zitterte. Dann hustete sie wieder, und dieses Mal rann Blut über ihre Lippen.
    Ich tat, was ich konnte. Ich gab ihr Kräuter und wusch ihr den Schweiß von der Stirn. Doch wir wussten beide, dass das nichts nützen würde. Am dritten Tag erzählte ich ihr all das, was wir gemeinsam erlebt hatten. Wir erinnerten uns an die Sommer, in denen wir gemeinsam in die Berge gegangen waren, und an die unzähligen Abende vor der Feuerstelle. Wir flüsterten uns zu und dachten an die Schafe, die bald ihre Lämmer bekommen sollten. Ich umarmte sie, bis sie einschlief, und als der Morgen kam, wollte sie nicht mehr aufwachen.
    Sie wurde nicht älter als drei mal zehn Sommer. Es war eine große Trauer für Noj und Viani. Sie hatten ihre Tochter überlebt. Es war eine große Trauer für mich. Ich hatte meine Frau verloren.
    Als ich aus der Hütte trat, sah ich, dass der Frühling gekommen war. Die Sonne wärmte meine Federn, und die Eiszapfen an der Ecke der Hütte weinten. Und da dachte ich an die Worte auf einem alten Pergament, die ich vor langer Zeit an einem Abend in Nojs Hütte gelesen hatte:
    »Er wird kommen, wenn du über den Verlust eines geliebten Menschen weinst…« Ich schloss meine nassen Augenlider und sah die Worte und die eingenähte Feder ganz unten auf dem Schafsleder vor mir.
    »Doch nach vielen Jahren wird er zurückkommen und ein letztes Mal zu dir sprechen. Er wird kommen, wenn du über den Verlust eines geliebten Menschen weinst, und die Botschaft, die er dir geben wird, wird die wichtigste sein, die deinem Volk zugekommen ist, seit es in der Felsenburg heimisch geworden ist.«
    Ich öffnete die Augen und sah in die Berge hinauf, dorthin, wo die Waldgeister und ich einmal gewandert waren, um die Rote Runde Wurzel zu finden. Über den Schneewehen schwebte etwas Schwarzes, etwas, das ich nur zweimal zuvor gesehen hatte. Es war mein Zwillingsbruder, der Rabe. Es war Kragg. Er flatterte zu den Hausdächern hinunter und sprach zu mir. Er sagte, dass sich bald eine Lawine lösen und die Stadt unter sich begraben würde. Dann flog er davon.
    Ich warnte sie. Und sie hörten auf mich. Der alte Noj mit seinem gebeugten Rücken, dem grauen Bart und dem spärlichen Haarkranz und Viani, die nur noch ein Schatten ihrer selbst war. Sie packten all ihr Hab und Gut auf die Schlitten und gingen gemeinsam mit den anderen fort. Es blieb nichts von ihnen zurück, nur leere Hütten. Sie wollten, dass ich sie begleitete, doch ich weigerte mich. Ich wollte warten, sagte ich, bis sie zurückkamen. Sie gaben mir keine Antwort.
    Ich begrub Kirgit oben, gleich neben dem Weg, wo der Dornenstrauch wächst, unter den Steinen der Geröllhalde, zupfte mir drei Federn aus und legte sie auf ihr Grab. Dann kletterte ich in die höchste Kalane und wartete.
    Ich schlief ein dort oben, doch das Gepolter weckte mich. Aus dem Drachenrauch tauchte eine gewaltige Schneewalze auf. Sie stürmte über das Grab, schlug die Häuser zu Boden und begrub das Tal unter sich.
     
    Die nächsten Tage verbrachte ich damit, die verschiedensten Dinge auszugraben. Einen Balken, Halme für das Dach, einfach alles, was ich gebrauchen konnte, um mir eine Schutzhütte zu bauen und Brennmaterial zu bekommen. Ich baute mir einen Unterschlupf in der Kalane und lebte dort oben. Wenn sie zurückkommen, dachte ich, werden sie den Schnee wegschaufeln und die Häuser neu aufbauen. Und sie werden mir helfen, den Schnee von ihrem Grab zu räumen, damit ich einen Ort für meine Trauer habe.
    Doch das Felsenvolk kam nie wieder zurück. Auch auf der Ebene sah ich sie nicht. Sie waren wie vom Erdboden verschluckt.
     
    Im darauf folgenden Sommer kamen die ersten Herumstreifer zum Tor. Zwei Wagen. Sie sagten, sie stammten aus der Stadt der Fischer beim Westwald. Ich ließ sie herein, denn sie reisten mit Frauen und Kindern. Außerdem fühlte ich mich einsam. Zusammen räumten wir die Reste des Lawinenschutts weg und bauten die Hütten wieder auf. Sie sahen mich merkwürdig an, sagten aber, sie hätten die Gerüchte über den Vogelmann in der Felsenburg gehört. Mehr wollten sie nicht verraten.
    Im Herbst kamen noch mehr Menschen. Bald waren es wieder so viele, wie auch zuvor in der Felsenburg gelebt hatten.
     
    Das neue Volk behandelte

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