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Die Traenen des Mangrovenbaums

Die Traenen des Mangrovenbaums

Titel: Die Traenen des Mangrovenbaums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne de Witt
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Ort.«
    Anna Lisa klammerte sich an die Zügel. Sie war froh, dass ihre Stute unaufgefordert einen etwas flotteren Gang einlegte. Der graue Hauch, der den Totenhof umwehte, schien ihr bis in die Kleider zu dringen. Obwohl es bereits sehr warm war, fröstelte sie. Nur allmählich ließ das Grauen nach, als der Dschungel sich wieder zu beiden Seiten schloss und die Lichtung hinter ihnen verschwand.
    »Geschieht so etwas öfter?«, fragte sie beklommen.
    Wieder ein Achselzucken. »Zuweilen. Auch Henry Wolkins musste Buitenhus schon ein paar Mal mit der Waffe in der Hand verteidigen.« Er hatte ruhig, fast gleichgültig gesprochen, aber plötzlich loderte die Wut in seiner Stimme auf. »Was erwarten Sie denn, wenn Sie ein Land überfallen, den Leuten ihren Grund und Boden und die Früchte ihrer Arbeit rauben, sie jeden Tag demütigen und zu Pächtern in ihrem eigenen Land degradieren? Die Javaner müssen dafür bezahlen, dass sie ihre eigenen Reisfelder und Plantagen bebauen dürfen, sie müssen ein Zehntel ihres Ertrages an die Kolonialherren abführen, die keine Hand gerührt haben, außer um die Peitsche zu schwingen; es wird ihnen sogar verboten, dass sie ihre Dörfer verlassen, damit sie sich dieser aufgezwungenen Fron nicht entziehen können!«
    Hastig, fast fieberhaft sprach er weiter. In Europa kümmerte man sich nicht darum, wie der überwältigende Reichtum erworben wurde, den die Holländer an sich rafften. Erst ein junger Kolonialbeamter namens Eduard Douwes Dekker hatte gewagt, die unbeschreiblichen Zustände in Worte zu fassen. Er war 1855 nach Java geschickt worden, um Missstände aufzudecken. Er fand so viele, und sie waren so skandalös, dass er sein Amt niederlegte, nach Holland zurückkehrte und unter einem Pseudonym einen Bericht schrieb, der – als Abenteuerroman getarnt – 1860 in Amsterdam erschien. Dekker berichtete von Korruption, Erpressung, Ausbeutung und Mord. Aus eigener Anschauung beschrieb er, wie aller Reichtum der Insel allein den Holländern zugutekam. Kein Gulden wurde in das Wohl der Einheimischen investiert. Für die Vereinigte Ostindische Kompagnie waren sie nichts als Objekte der Ausbeutung, deren Status sich von dem von Sklaven nur insofern unterschied, als sie kein persönlicher Besitz irgendeines Pflanzers waren – und selbst das war ihnen nicht garantiert. Wer sich gegen die Kolonialmacht verschwor oder auch nur in den Verdacht geriet, ein Verschwörer zu sein, konnte mit dem Verkauf in die Sklaverei bestraft werden.
    Das Buch hatte eine ungeheure Wirkung, es erschütterte das Gewissen der Holländer nachhaltig. Sogar im Parlament wurde es diskutiert. Anständige Menschen drängten darauf, der hemmungslosen Gier ein Ende zu machen, die Einheimischen zu respektieren und ihnen einen Teil ihres Besitzes zu belassen.
    »Tatsächlich«, fuhr Edgar Zeebrugge fort, »wurden die schlimmsten Auswüchse beseitigt, aber wenn Sie mich fragen: Es ist zu spät. Wenn man jemandem jahrhundertelang ein Messer in den Rücken steckt, darf man nicht erwarten, dass er danke sagt, wenn man es herauszieht – und herausgezogen wurde es ohnehin nur teilweise. Vielleicht werden Sie und ich es noch erleben, wie dieses geschundene Volk einen weiteren Aufstand wagt. Es gab den Java-Krieg, es gab den Aufstand des Prinzen Diponegoro. Beide scheiterten blutig, aber wie sagen die Engländer? Third time pays for all. Vielleicht wird das hier der Fall sein.«
    »Das sagte Dr. Semmelbrod auch.« Anna Lisa erzählte ihrem Begleiter von ihren Gesprächen mit dem greisen Spiritisten. »Es macht mir Angst. Ich hatte mir das alles so anders vorgestellt. Ich dachte, die Pflanzer sind fleißige, ehrliche Leute, die reich werden, weil sie viel arbeiten.«
    Zeebrugge lächelte spöttisch, aber auch ein wenig mitleidig angesichts ihrer Naivität. »Die gute alte calvinistische Ethik, nicht wahr? Die Reichen sind reich, weil sie arbeitsam und tugendhaft sind. Die Armen sind arm, weil sie faul und liederlich sind. Und allen ist ihr Schicksal durch Gottes unerforschlichen Ratschluss von Ewigkeit her bestimmt, sodass wir kein schlechtes Gewissen zu haben brauchen, wenn wir die Einheimischen ihrer Güter berauben – umso weniger, als sie ja ohnehin bloß Heiden und zur ewigen Verdammnis bestimmt sind. Da macht es keinen großen Unterschied mehr, wenn sie in diesem Leben gehenkt werden, ohne dass ihnen irgendeine Schuld nachzuweisen ist, wie die armen Tröpfe aus dem Kampong.«
    Plötzlich machte er eine wilde, weite

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