Die Traenen des Mangrovenbaums
hinsehen und was sie sagen sollte.
Herr Zeebrugge erkannte ihr Dilemma und machte sich sofort daran, die Sachlage zu erklären. »Hier, Frau Vanderheyden«, sagte er, während sein Diener dem Gast den Platz richtete, ein Kissen auf die Holzbank legte und Tee einschenkte, »haben wir einen Zusammenstoß zweier Kulturen, und ehe sich irgendjemand unbehaglich fühlt, will ich ihn erklären.« Er sprach Holländisch, wahrscheinlich verstand der Javaner diese Sprache von allen europäischen Sprachen am besten. »In Deutschland – diese Dame ist Deutsche, Herr Raharjo«, fügte er mit einem Blick auf den Gast hinzu, »gilt es als Höflichkeit, einem Menschen fest die Hand zu drücken und ihm offen ins Gesicht zu schauen; damit signalisiert man Aufrichtigkeit. In Java betrachtet man es als Unverschämtheit, jemand ins Gesicht zu starren, und schon gar nicht fasst man ihn unaufgefordert an. Man will sich nicht aufdrängen, am besten gar nicht zu sehr bemerkbar machen. Deshalb hat mein edler Gast den Blick abgewandt, als er Ihnen begegnete.«
»Ich verstehe«, sagte Anna Lisa, die froh war, dem Studium des Holländischen so viel Eifer gewidmet zu haben. »Ich dachte, Sie dürfen mich nicht anschauen, weil ich eine Frau bin.«
Raharjo lachte, freilich ohne den Blick zu heben. Er wusste offenbar nicht, was er sagen sollte. Anna Lisa dachte an die Schilderungen, die Dörte ihr vom Leben auf Java gegeben hatte: dass man Frauen dort kaum höher als Nutztiere achtete. Dann hatte man wohl auch keine hohe Meinung von einer weißen Dame, die obendrein ohne ihren Gatten im Haus eines fremden Mannes weilte.
Rasch bemüht, Raharjo ihren ehelichen Stand klarzumachen, sagte sie: »Mein Gatte wollte mitkommen, aber er leidet noch an den Folgen eines Unfalls und kann nicht reiten.«
»Ja, ich habe davon gehört«, antwortete dieser, wobei er so tat, als sei es Mijnheer Zeebrugge, der mit ihm gesprochen hatte. Eine heftige Röte malte sich auf seinen zimtfarbenen Wangen. Anna Lisa schoss der Gedanke durch den Kopf, dass er – abseits aller kulturellen Probleme – aus demselben Grund verlegen sein mochte wie sie. Sie gefiel ihm, und es war ihm peinlich, dass man ihm das anmerkte. Jedenfalls wandte er ihr beinahe den Hinterkopf zu, als er an den Gastgeber die Worte richtete: »Eine dumme Sache mit der Plantage. Leider sind solche Ausbrüche von Typhus sehr häufig, ebenso wie Ruhr, Malaria und alle Arten von Fieber.«
»Ich hörte, das kommt vom verschmutzten Wasser.« Anna Lisa war entschlossen, sich nicht an den Rand drängen zu lassen. Schließlich war sie nicht als Aufputz hier, sondern als Vertreterin des Mannes, der Buitenhus leiten sollte. Sie war seine Gattin, also ging es auch um ihre Plantage.
»Ja. Man sollte hier nie frisches Wasser trinken, auch nicht aus einem Brunnen. Warum auch, wenn man einen wunderbar aromatischen Tee daraus machen kann?« Er hob sein Teeglas, als wollte er Zeebrugge zuprosten, und nippte zierlich an dem duftenden Gebräu.
Anna Lisa fand seine Bewegungen zauberhaft. Es war, als tanzte er in einem fort. Jede Geste war zugleich vollkommen natürlich und so stilisiert, dass sie, für sich allein genommen, das Bild eines Tänzers geboten hätte. Er streckte die Hand aus und ließ sich von seinem Pagen eine Dose aus Elfenbein reichen – Hand und Arm beschrieben einen vollendeten Halbkreis, langsam streckten die Finger sich, wie eine aufblühende Blume öffnete sich die Handfläche. Der Knabe zog sich mit einer tiefen Verbeugung zurück.
Raharjo öffnete die Dose und entnahm ihr mit der Selbstverständlichkeit, mit der man sich in Europa in guter Gesellschaft eine Zigarre anzündet, alle zum Betelkauen nötigen Zutaten: die klein gehackten Nüsse, mit gelöschtem Kalk bestrichene Blätter des Betelpfeffers und eine Gewürzmischung, die nach Pfefferminze roch und wie mit Kautabak gemischte Lakritze aussah. Die in Blätter eingewickelte Mischung schob er sich wie einen Tabakpriem in die Wange. Gemächlich kauend, nahm er weiterhin am Gespräch teil, und auch das tat er auf eine sehr artige Weise. Kein Europäer, dachte Anna Lisa, hätte es jemals fertiggebracht, beim Tabakkauen ein Gespräch zu führen, ohne dass man ihm dabei in den Mund guckte oder ihm der Saft über die Lippen rann.
Sie fragte sich, wonach ein solcher Betel kauender Mann wohl schmeckte, wenn man ihn küsste. Bei dem Gedanken überlief es sie wie ein Fieberschauer. Ein Glück, dass ihr im allerletzten Moment noch Simeons nach
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