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Die Traenen des Mangrovenbaums

Die Traenen des Mangrovenbaums

Titel: Die Traenen des Mangrovenbaums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne de Witt
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alles weiß man hier, Tausende Meilen von Amsterdam entfernt?«
    »Ja. Ich warne Sie: Sie sind hier in ein Klatschnest übelster Sorte geraten. Man wartet seit Wochen begierig auf Ihre Ankunft, man rieb sich bereits die Hände bei dem Gedanken, was für prächtige Zusammenstöße es mit dem alten Wolkins geben würde – aber nun hat ihnen allen ja der Typhus einen Strich durch die Rechnung gemacht.«
    »Ich wusste nicht, dass man sich hier so für uns interessiert.«
    »Aber wie! Sämtliche europäischen und einheimischen Diener, Kulis, Obsthändler und Gepäckträger haben den Auftrag, ihren Herrschaften jede noch so unbedeutende Neuigkeit zu berichten. Inzwischen sind Sie und Ihr Gatte das Hauptgesprächsthema der holländischen und deutschen Pflanzer an der javanischen Westküste, und Sie werden in Zukunft keinen Schritt tun können, ohne dass man sich über jede Ihrer Bewegungen das Maul zerreißt. Ihr einziger Trost darf sein, dass es allen anderen genauso geht. Worüber sollen die Mijnheers hier reden als über andere Mijnheers?« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Ich nehme an, Mijnheer Vanderheyden war nicht gerade begeistert von dem Gedanken, nach Java zu reisen, und wird der Insel gerne den Rücken kehren.«
    Noch vor einer Woche hätte sie aus ganzem Herzen »Ja« geantwortet. Aber sie hatte Simeons glänzende Augen gesehen, als er in Anjer die tropischen Blumen und Bäume zum ersten Mal mit eigenen Augen erblickte; sie hatte bemerkt, wie sein ganzes Wesen sich veränderte, und sie kannte ihn inzwischen gut genug, um zu wissen, dass das keine flüchtige Veränderung gewesen war. Wenn seine Leidenschaft für die Botanik erweckt war, wurde er ein anderer Mensch. Wäre nur nicht die Schreckensnachricht dazwischengekommen!
    »Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Ich muss ihn fragen. Es ist seine Entscheidung. Es wird wahrscheinlich sehr schwierig sein, hier Fuß zu fassen.«
    Er nickte nur stumm.
    Sie waren etwa eine weitere halbe Stunde durch das dampfende Zwielicht geritten, als sich die Enge des Dschungelpfades plötzlich zu einem weiten, allerdings völlig von wildem Grün überwucherten Platz öffnete. Die Pferde schnaubten, Herrn Zeebrugges Pferd stieg, als wollte es sich weigern, den Ort zu betreten. Auch Anna Lisas Stute zögerte kurz, ehe ihr phlegmatisches Temperament die Oberhand gewann. Einen Augenblick dachte die junge Frau, sie sei vor einer übermannshohen schwarzen Gestalt mit sonderbar kleinem Kopf erschrocken, die unmittelbar neben dem Pfad aus den feuchten Nebeln aufgetaucht war. Dann sah sie, dass die vermeintliche Gestalt eine Art Denkmal aus dunklem Stein war, mit einem Sockel, auf dem sich eine vierkantige Stele und auf deren Spitze sich ein schwarz glänzender Knauf erhob. Eine eng beschriftete, bereits halb verwitterte kleine Holztafel war daran befestigt. Sie ritt näher, und ein Schauder lief ihr über den Rücken, als sie die deutschen Worte las:
Hier fielen am 11.Juni 1876 von gottloser Mörderhand alle Mitglieder der Familie Gerstenbauer, drei Männer, vier Weiber, drei kleine Kinder und vier Leut vom Gesinde. Gott erbarm sich der armen Seelen.
    Jetzt sah sie auch die Überreste des einstmals wohlbestallten, weiß getünchten Pflanzerhauses mit seinen Scheunen und Ställen am Rand der Lichtung: Im Schatten riesenhafter Banyan-Bäume dämmerten drei schimmlige Ruinen vor sich hin, aus deren Fensterlöchern und Türöffnungen die Ranken der Orchideen wie die Hände und Arme geisterhafter Bewohner herausragten. Der Ort atmete eine solche Bedrückung, dass Anna Lisa der Atem stockte. Der feuchte Nebel kroch an sie heran, als wollte er sie ersticken.
    »Was ist hier geschehen?«, fragte sie mit gepresster Stimme.
    Herr Zeebrugge hob die Achseln und ließ sie wieder fallen. »Das weiß niemand. Die Familie Gerstenbauer wurde erschossen, vom Familienvater bis zum Kind in der Wiege. Die holländischen Kolonialbehörden henkten zehn Javaner aus dem nächstgelegenen Kampong, aber eigentlich nur zur Abschreckung.«
    »Was! Es wurde gar nicht bewiesen, dass die Leute schuldig waren?«
    »Wenn Weiße getötet werden, braucht es nicht viele Beweise, um Einheimische an den Galgen zu bringen. Die Familie war nicht beliebt, es gab öfters Streit mit den Bauern im Kampong, das genügte den Richtern. Genauso gut kann es eine Räuberbande gewesen sein oder ein Trupp Rebellen, die ein Exempel statuieren wollten. – Kommen Sie, reiten Sie schneller, das hier ist ein verfluchter

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