Die Traenen des Mangrovenbaums
ausharren. Ihre Kenntnisse des Holländischen reichten nicht aus, um dem Gespräch zu folgen. Sie sah nur, dass ihr Mann und der Chinese sich aufs Beste unterhielten. Bald schon ließ Herr Liao durch einen Diener ein Herbarium herbeibringen, und sie blätterten gemeinsam in dem kostbaren Buch. Simeon machte kein Hehl aus seiner Bewunderung. Es war kunstvoll in schwarzer Chinatusche und verschiedenen roten, blauen und goldenen Tinten ausgeführt, ganz in chinesischen Schriftzeichen, was ihm einen besonderen Reiz verlieh, und mit wunderbar feinen, naturgetreuen Zeichnungen versehen.
Herr Liao klagte über das feuchte Klima, das den gepressten Pflanzenteilen schwer zusetzte; deshalb verwendete er viele gezeichnete Herbarien. Er ließ eine Porzellanschale mit verschiedenen getrockneten Blättern und Stängeln darin herbeibringen und hielt sie neben die entsprechende Zeichnung. War die Ähnlichkeit nicht vollkommen? Simeon stimmte ihm aus ganzem Herzen zu.
Anna Lisa merkte ihm an, wie sehr er jetzt seinen Jähzorn verfluchte, der ihm eine eingegipste Hand eingetragen hatte. Es juckte ihn in den Fingern, seinerseits zu Tusche und Feder zu greifen und ein solches Buch zu beginnen.
Er war sichtlich glücklich; dennoch war Anna Lisa erleichtert, als ihr Gatte schließlich ermüdete und sich mit geradezu orientalischer Höflichkeit von Dr. Liao verabschiedete: Er bitte um Verzeihung für die Mängel seines Geistes und Körpers, die ihn zwangen, Ruhe zu suchen; es sei die gerechte Strafe für seine Schwäche, dass er jetzt keine Gelegenheit mehr haben würde, noch weitere wunderbare Dinge zu lernen …
Und seine glänzenden Augen, sein flacher Atem, sein angespanntes Gesicht verrieten, dass er jedes Wort ernst meinte.
Selten war ein Europäer mit so viel echter Herzlichkeit von Herrn Liao verabschiedet – und um ein baldiges Wiederkommen gebeten worden.
Als Simeon sich bereits erhoben und mit weichen Knien dahinwankend die Tür erreicht hatte, hielt der chinesische Kräuterarzt ihn noch einmal auf. Er reichte ihm auf seiner fleckigen Klaue ein Kästchen, das ein rundes, fettig glänzendes Ding ähnlich einer Seifenkugel enthielt – einen unregelmäßigen Ball, halb so groß wie ein Hühnerei, den man an einer darin eingelassenen Kordel herausziehen konnte. Er strömte einen schwachen, pflanzlichen, eher unangenehmen Geruch aus.
»Nehmen Sie das, geehrter Herr«, sagte er. »Es ist ein Geschenk, ein kleiner Dank für die Freuden der Weisheit, die Sie in mein bescheidenes Haus gebracht haben.« Und mit verschwörerisch gedämpfter Stimme fügte er hinzu: »Wenn Sie einer Speise zu misstrauen Anlass haben, so legen Sie diese Kugel hinein. Ist die Speise in Ordnung, wird weiter nichts geschehen. Ist sie aber vergiftet, wird die Kugel es Ihnen unmissverständlich anzeigen.«
Nun, dachte Anna Lisa, immerhin besser als ein Galgenmännlein. Sie verneigte sich zum Abschied vor Herrn Liao – der sie ignorierte – und stieg mit erleichtertem Herzen in die Kutsche. Es war ein höchst wunderlicher Nachmittag gewesen, aber Simeon war glücklich und zufrieden, das allein zählte. Er freute sich wie ein Kind über die Gift anzeigende Wunderkugel und schwatzte während der gesamten Heimfahrt über die Wunder des Kräuterladens.
Herr Liao blieb sehr nachdenklich zurück. Er war nicht nur ein gelehrter, sondern auch ein weiser Mann; in seiner Jugend war er viel gereist und hatte auf seiner Suche nach seltenen Kräutern ganz außergewöhnliche Menschen kennengelernt, darunter die Zauberpriester südamerikanischer Indios und einen alten Juden in Prag, der behauptete, Teile von Kaiser Rudolfs okkulter Schatzsammlung sein Eigen zu nennen. Er wusste, dass es viel mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gab, als sich die Schulweisheit – auch die konfuzianische Schulweisheit, der er anhing – träumen ließ.
Auf der Stelle sandte er seine Späher aus, und schon bald kehrten sie mit der Nachricht zurück: Es stimmte, die Vanderheydens wurden tatsächlich von einem furchterregenden Geschöpf begleitet, das die äußere Gestalt eines hässlichen Hundes hatte, aber zweifellos ein Dschinn war. Die befragten Diener im Hotel des Indes berichteten einstimmig: Man hörte es oft, wie es hinter verschlossenen Türen mit einer brummelnden und schnaufenden Stimme vertrauliche Gespräche mit seinem Herrn führte. Es erzählte Mijnheer Vanderheyden alles, was hinter seinem Rücken geschah. Die Zimmermädchen hatten eine Heidenangst vor dem
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