Die Traenen des Mangrovenbaums
aufbewahrt hatte. Der Habsburger, ein leidenschaftlicher Okkultist, hatte daran geglaubt, dass seine Alraune über höchst nützliche Fähigkeiten verfügte: Sie schützte vor allen Krankheiten und heilte alle Leiden, half verborgene Schätze zu entdecken und sicherte Erfolg in Liebesabenteuern. Entsprechend ehrerbietig musste sie behandelt werden. Man musste sie jede Woche in Wein baden und mit Wein und Weißbrot füttern, sonst wurde sie bösartig und rief Unglück hervor.
Jetzt fragte Simeon: »Weißt du, was das ist?«
»Ja. Eine Springwurzel, eine Alraune.«
Herr Liao nickte lächelnd, wobei er sich, die Hände in den Ärmeln, wiederholt verbeugte – ob vor Simeon oder vor dem Galgenmännlein, war nicht zu erkennen. »Gefährlich, sehr gefährlich!«, bestätigte er, und ganz nach chinesischer Art klang das »r« eher wie ein »l«. »Aber auch sehr hilfreich, wenn man bedroht wird. Der Herr wird ruhiger schlafen, wenn er sie in seinem Besitz hat. Böse Träume werden verschwinden, das Gift wird aus seinem Herzen weichen … der Geist, der an ihm zehrt, wird ihn verlassen.«
Anna Lisa spürte, wie heißer Ärger in ihr aufstieg. Der Chinese war zweifellos ein guter Diagnostiker, er hatte Simeons Gemütsleiden erkannt – und jetzt versuchte er, ihm dieses ekelhafte Wurzelmännlein anzudrehen! Es war nicht der Gedanke daran, dass er zweifellos schweres Geld dafür verlangen würde, der sie am meisten aufbrachte, sondern die schiere Widerwärtigkeit des Galgenmännleins. Niemals wollte sie dieses Ding in Simeons Nähe sehen, selbst wenn er sich dann wohler fühlte.
Mochten die Leute hier sie für unhöflich halten! Entschlossen klappte sie den Deckel des kleinen Sarges zu und erklärte mit fester Stimme: »Unser Dschinn wird nicht dulden, dass ein anderer ihm den Platz streitig macht. Wir danken für Ihr Angebot, Herr Liao« – dabei machte sie eine kleine Verbeugung –, »aber unser Dschinn ist sehr eifersüchtig und stolz; er würde es als Beleidigung auffassen, wenn man seine Kompetenzen beschneidet, und Sie wissen, was einem ein verärgerter Dschinn alles antun kann.« An Simeon gewandt, fügte sie hinzu: »Tietjens wäre furchtbar wütend, wenn du mit so etwas heimkommst.«
Herr Liao war sichtlich vor den Kopf gestoßen. Erstens einmal gehörte es sich nicht, dass eine Frau Entscheidungen für ihren Mann traf, aber das beschäftigte ihn im Moment gar nicht so sehr wie das zweite Skandalon: Der Mijnheer und seine Gattin hatten ihren eigenen Spiritus familiaris ? Er hielt den Kopf schief wie ein lauschender Vogel, seine schwarzen Augen funkelten in dem Netzwerk von Runzeln, das sie umgab. Dann entschied er sich mit der Weisheit und Vorsicht seines Volkes, die Sache erst einmal auf sich beruhen zu lassen, bis er nähere Informationen eingeholt hatte. Sachte nahm er den Ebenholzsarg an sich und verstaute ihn in einer abschließbaren Kommode.
Anna Lisa war ausnahmsweise einmal erleichtert über Simeons Sprunghaftigkeit. Sie hatte schon gefürchtet, er würde ihr die Einmischung übel nehmen, vielleicht sogar darauf beharren, die Alraune sein Eigen zu nennen – aber seine Gedanken hatten sich bereits wieder einem anderen Thema zugewandt. Bestrebt, dem Chinesen zu zeigen, dass er auch etwas von Botanik verstand, wandte er sich mit der Frage an ihn: »Dieses Bündel dort – das sind Rhabarberwurzeln, nicht wahr? Und das dort ist Sarsaparille aus Südamerika … das hier Aloe. Und dieses Harz nennt man Drachenblut …«
Herr Liao nickte und lächelte. »Der Mijnheer ist ein gelehrter Mann.« Er griff nach einer der geschrumpften Kürbis-Kalebassen auf dem Ebenholzregal und hielt sie Simeon hin. »Weiß der Fremde, was das ist? Mit dem Harz, das diese Flasche enthält, bestreichen die Waldmenschen in Südamerika die Spitzen ihrer Pfeile. Wer davon getroffen wird, Tier oder Mensch, sinkt erschlafft in sich zusammen, seine Brust fällt ein, er stirbt an Atemlähmung.«
»Ich kenne es. Wir nennen dieses Gift Curare.« Simeon lächelte stolz wie ein Student, der eine schwierige Frage seines Professors zu beantworten weiß.
Herr Liao zog die fein geschwungenen und künstlich geschwärzten Augenbrauen hoch. Er stellte halb spielerisch, halb ernsthaft weitere Fragen, und sehr bald hatte er sich überzeugt, dass er tatsächlich einen Kenner vor sich hatte. Daraufhin vertieften die beiden sich so sehr ins Gespräch, dass Anna Lisa schon fürchtete, sie müsste bis in die Nacht hinein in dem Laden
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