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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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Schwestern.
    «Furchtbar», kam die rasche, fast atemlose Antwort. «Sie kam überhaupt nicht mit meinen Haaren zurecht. Sie sind zu
lockig
.» Sie betonte das Wort als Spondeus –
lo-ckig
. Die Frau, die auch einen blauen Blazer trug, aber einen, der taillierter geschnitten war, sprach auf eine etwas sonderbare Weise – nicht eigentlich mit einem Akzent, aber mit einem Mund, der ein wenig betäubt, ein wenig gefroren innehielt im Nachklang der Worte, als empfinde sie bei allem, was sie sagte, ein leises Erstaunen. Ihr Haar war, jetzt, da er hinsah, tatsächlich bemerkenswert lockig, bronzebraun im Ton und so dicht und federnd, als wehre es sich gegen die Schildpattspangen, die es an ihrem Kopf festhielten.
    Milford, der etwas tiefer auf der geschwungenen Treppe stand, mit dem einen Fuß eine Stufe höher als mit dem anderen, erinnerte sich an einen früheren Anblick dieser Erscheinung, auch auf einer Treppe. Diejenigen der Gruppe, die nicht merklich unsicher auf den Beinen waren, hatten die sechshundertvierzehn in Fels gehauenen Stufen erklommen, Vindhyagiri Hill, auf dessen Gipfel eine monumentale Dschina-Statue stand, die gigantische Darstellung eines legendären Weisen, Bahubali, der so viele Tage und Monate reglos auf einem Fleck gestanden hatte, dass – der Legende nach – Weinranken über seinen Körper gewachsen waren. Zu Beginn des Aufstiegs war Milford schockiert gewesen, als er zum ersten Mal einen «luftgekleide ten » heiligen Mann sah. Der Nackte bewegte sich aufwärts,einen bedächtigen Schritt nach dem anderen, dazwischen zeremonielle Pausen, während deren er einen monotonen Singsang anstimmte und die Glöckchen an seinen Handgelenken schüttelte. Sein korpulenter, ja dickbäuchiger Körper war zu einem öligen Kaffeebraun gegerbt, das nur von Büscheln grauen Haars auf seiner Brust und anderswo unterbrochen wurde. Die Hässlichkeit solch eines alternden männlichen Körpers irritierte Milford. Schritt der heilige Mann den ganzen Tag lang die Treppe hinauf und hinunter? Gab es in Indien kein Gesetz gegen anstößige Entblößung? Oder war sie legal an geheiligten Stätten, in der Nähe einer riesigen nackten Statue, deren Penis, wie der Reiseführer schätzte, zwei Meter lang war? Mit diesen Fragen beschäftigt, fühlte Milford, dass jemand an ihm vorbeiging. Ein Körper streifte seinen. Er wurde überholt von einer jüngeren Frau in khakifarbenen Slacks, weißen Laufschuhen und mit einer gelben, kess schräg nach vorn gezogenen Baseballkappe, als ob ihr Haar zu bauschig, zu federnd sei, um darunterzupassen. Ohne Anstrengung, wie es dem keuchenden Milford vorkam, bewegte sie sich hinauf und außer Sicht inmitten der vielen anderen hinaufsteigenden Pilger in Sravanabelgola. Als er alle Stufen geschafft hatte bis zum Schrein oben, aus dem das gewaltige Bildnis, symmetrisch und gelassen, hervortrat wie ein Schachtelteufel, war sie verschwunden.
    «Aber sie dürfte keine Schwierigkeiten mit
Ihrem
Haar haben, es ist so
glatt
», sagte die Frau zu Jean mit dieser abschließenden Betonung, die Lippen geöffnet lassend, als gäbe es etwas an glattem Haar, das sie benommen machte. «Ich gäbe etwas darum, wenn ich glattes Haar hätte», sagte sie dann doch noch und streckte Jean eine schön geformte, schwerberingte Hand entgegen. «Ich bin Lorena. Lorena Billings», sagte sie.
    «Ich weiß.» Jean lächelte. «Ich bin Jean Milford, und das hier ist mein Mann, Henry.»
    Er fragte sich, ob Jean log oder ob sie es wirklich gewusst hatte. Frauen logen oft einfach aus Höflichkeit oder aus dem Wunsch, eine Geschichte abzurunden, andererseits behielten sie Details für sich, die Männern herausrutschten. Er hatte den Namen der Erscheinung schon vergessen. Ihre Hand ergreifend – sie war bestürzend warm und feucht –, sagte er, um seine Entzücktheit und Verwirrung zu kaschieren: «Sie haben mich gestern auf den Dschina-Stufen überholt. Sind wie der Wind an mir vorbeigefegt – ich war beeindruckt. Sie müssen fabelhaft in Form sein.»
    «Nein», war die nachdenkliche, ernste Antwort, während sie ihn zum ersten Mal ansah. Ihre braunen Augen waren von einer überraschend blassen Schattierung, fast bernsteinhell. «Ich wollte es nur schnell hinter mich bringen, bevor mich der Mut verlässt.»

    «Hast du wirklich gewusst, wie sie heißt?», fragte Milford seine Frau, als die andere mit ihrer furchtbaren Frisur gegangen war. Er hatte sie eigentlich sehr hübsch gefunden. Mit Haaren, die so lockig sind, dass

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