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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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der Bus hielt. Tempel folgte auf Tempel, sie verschmolzen in Milfords Kopf zu einem trostlosen Labyrinth funzlig erhellter Gänge, in denen es nach verfaulendem Essen roch – Opfergaben für Götter, die keinen Appetit haben. Am Ende einiger besonders langer und dunkler Gänge stand die
linga
, ein rundes phallisches Symbol, das regelmäßig mit Girlanden geschmückt und mit Öl und Butter aus Büffelmilch gesalbt wurde. In besonders gut ausgestatteten Tempeln bewachten Priester in langen Roben die
linga
und starrten erwartungsvoll den Touristen entgegen.
    Milford war nicht gut in Hinduismus. Er verwechselte dauernd Vishnu und Shiva und achtete nicht auf die subtilen gemeißelten Unterschiede in der Haartracht, an denen man sie erkannte. Er vergaß immer wieder, wessen Gemahlin die liebliche Lakshmi war, Göttin des Reichtums und des Glücks, und wessen Gemahlin Parvati/​Durga/​Kali, Tochter des Himalayas, Göttin der Stärke, des Kriegs, der Zerstörung und Erneuerung. Jean und Ian schmiedeten eine Allianz, ein Komplott zwischen Musterschülern, verglichen Notizen und lernten Listen von Gottheiten ersten und zweiten Ranges und den Wechselbeziehungen zwischen ihnen auswendig und Listen mit den überaus leicht zu vergessenden langenNamen der Tempel, die in ihren diversen schmutzigen, lauten Städten hockten zwischen endlosen Reihen von Ein-Mann-Läden, zwischen verkrüppelten Bettlern und herzergreifend hoffnungsvollen sehnig-dürren grienenden braunen Kindern.
    Während ihre Ehepartner Notizhefte verglichen und einander mit aufgeschnappten Brocken Hindi und Sanskrit übertrumpften, fanden Henry und Lorena sich zu einem Bündnis vorsätzlicher Ignoranz zusammen. Mit Blicken von der Seite und leisem Lächeln wurden sie zu Connaisseurs irrelevanter Details – sie sahen die zunehmende Verärgerung des Reiseleiters über aggressive japanische und koreanische Gruppen; indische Beamte und Oberkellner, die, barsch und hochmütig, das Gebaren eines obsoleten britischen Kolonialherrentums imitierten; einen verblüffend expliziten Sexualakt in einem von der Zeit zernagten Tempelfries; einen einsamen Strauß welkender Blumen am Fuß eines abseitsstehenden Schreins für Parvati, unter manch anderem die Göttin der Fruchtbarkeit.
    In den von Fledermäusen bewohnten höhlenartigen Nischen der größeren Tempel erschienen brahmanische Priester mit wildem Blick und verkauften ihren Segen an die Touristen. Die Touristen lernten, wie sie die Hände zusammenlegen mussten, um ihr
namaste
darzubieten, und wie sie den Kopf zu neigen hatten, um einen Tupfer heller Henna oder öliger Asche in die Mitte ihrer Stirn zu empfangen. Es kam Milford vor, als trage Lorena dies frische Mal den ganzen Tag, ein drittes Auge über ihren beiden topasfarbenen eigenen. Sie hatte ein Talent dafür, gesegnet zu werden. In manchen der größeren, vielbesuchten Tempel war ein angeketteter Elefant darauf abgerichtet, einen Geldschein in diegreiffähige dreilappige Öffnung seines Rüssels zu nehmen und den Rüssel nach hinten zu schwingen, um den Schein in die Hand des Wärters zu legen, und dann das rosa Ende des unheimlichen, fügsamen Organs für einen Augenblick auf dem Kopf des Spenders ruhen zu lassen. Lorena unterwarf sich bei jeder Gelegenheit dieser Prozedur, die Augen fromm geschlossen, die kanariengelbe Baseballkappe keck nach vorn gekippt auf der dichten Masse ihrer Locken. Die Kappe, nahm Milford an, diente als eine Art Prophylaxe, aber verblüfft und fröhlich beschwerte sie sich nach einem solchen Segen bei Henry: «Er hat mich angespuckt! Mitten ins Gesicht!»
    Er wollte den Segen eines Elefanten fühlen, wie sie ihn fühlte, und unterwarf sich zum Preis eines rosa Zehn-Rupien-Scheins, auf dem das Bild von Gandhi war, und fühlte tatsächlich eine tastende Weichheit auf seinem Kopf, eine gummiartige Schwere, intelligent gemäßigt, wie von einem überanstrengten Gott.

    Er wollte Lorena nicht zu nah kommen. In seinem Alter war es ihm lieber, aus sicherer Entfernung zu beobachten, ihr mit ironischer beiläufiger Aufmerksamkeit zu begegnen. Sie war in jeder Hinsicht jenseits seiner Möglichkeiten. Einmal, bei der zwanglosen Rotation der Ehepaare und verwitweten Singles und schwulen Junggesellen, mit der die Reisegruppe die Tischrunden bei den drei Mahlzeiten am Tag variieren wollte, saßen die Milfords und die Billings’ beim Dinner am selben Tisch, und um das jüngere Paar war eine Aura aufwendigen Lebensstils, als sie in der Unterhaltung

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