Die Tränen meines Vaters
sie sich von ganz allein einrollen, was könnte eine Friseurin da falsch machen?
«Natürlich», sagte Jean. «Ich habe die Liste durchgesehen, die man uns gegeben hat, als wir uns für die Tour eingetragen haben, und versucht, Namen und Gesichter in Einklang zu bringen. Du hättest viel mehr von diesen Reisen, Henry, wenn du ein paar Hausaufgaben machen würdest.»
Sie war mit Anfang zwanzig Lehrerin gewesen, bevorer sie kennenlernte, aber er hatte das Bild von ihr klar genug vor Augen: wie sie vor den Zweit- oder Drittklässlern stand, schlank, quick, perfekt gepflegt, und mit ihrer gelassenen, insistierenden Stimme volle Aufmerksamkeit verlangte und die Schüler am Ende jeder Unterrichtsstunde mit ihrem strahlenden, großzügigen Lächeln belohnte. Sie hatte diese Kinder zweifellos ihrem persönlichen Verständnis von einer angemessenen Erziehung unterworfen und arbeitete immer noch daran, auf die gleiche Weise ihren Mann zu unterwerfen. Manchmal, wenn er einer der hilfreichen Lektionen, die sie ihm zu seinem Besten erteilte, ausweichen und sich davonschlängeln wollte, verstellte sie ihm den Weg und sagte mit strengem Blick aus blauen Augen:
« Sieh
mich an!»
Er sagte scherzend – Scherzen war eine andere Form des Ausweichens –: «Ich bevorzuge die Immersionsmethode – lasse alles über mich hinwegschwappen, ungetrübt von vorgefassten Meinungen.»
«Das ist
so
schludrig», sagte Jean, meinte es aber nicht unfreundlich. Physisch, dachte Milford, waren sie beide, Jean und die Erscheinung, sein «Typ» – Frauen mittlerer Größe, von einem gewissen kompakten Umfang, nicht dick, aber genügend breit in den Hüften, um eine Begabung fürs Gebären zu signalisieren; Frauen, deren Frontalansicht in Männern den Wunsch weckt, ihnen Babys zu machen. Seine und Jeans Babys waren jetzt selbst in dem Alter, da man Babys macht, und was seine beiden älteren Töchter anging, sogar schon darüber hinaus. Doch der Ur-Instinkt war immer noch lebendig in ihm: er wollte diese Erscheinung zur Mutter seines Kindes machen.
Lorena Billings’ Körper unterschied sich von Jeans nicht nur durch dreißig Jahre weniger Gebrauch, sondern auchdurch teures Fitnesstraining. Obgleich man gegen hausbackene, bildungsbewusste Neuengländer wie die Milfords nichts hatte, bestand die Gruppe doch überwiegend aus New Yorkern von der Upper East Side. Sie schienen einander alle zu kennen, als sei die Metropole ein Dorf, wo man sich in Penthouses und bei Sitzungen der Museumskuratorien traf, und wenn man ihrer Unterhaltung lauschte, erfuhr man einiges von den geschätzten Sachwaltern ihres Wohlstands, mehr noch aber von ihren persönlichen Trainern.
Die Unterhaltung zwischen den Frauen verlief großenteils auf Spanisch. Zur Reisegruppe gehörte eine erstaunliche Anzahl von Ehegattinnen aus Lateinamerika – Überbleibsel einer alten Modewelle, mutmaßte Henry, sich mit Frauen wie mit Trophäen zu schmücken. Lorena war eine von ihnen, Kind eines abenteuerlustigen amerikanischen Bergbauingenieurs und einer chilenischen Bankierstochter. Das erklärte ihre charmante, konzentrierte Art zu sprechen – Englisch war nicht ihre Muttersprache, die Sprache ihres Herzens, obwohl man sie auf amerikanische Schulen geschickt hatte und sie die erworbene Sprache fließend beherrschte. Sie sprach sogar mit einem leichten New Yorker Akzent, diesem ungeduldigen Näseln, das – besonders aus ihres Gatten Mund – so nützlich war, wenn es darum ging, rasche Bewertungen abzugeben. Ian Billings war Anwalt, mit einer unerwähnt bleibenden Fülle ererbter außerjuristischer Ressourcen, die seinen Aussagen beiläufiges Gewicht verliehen. Als die Bekanntschaft zwischen den Touristen sich auf der Reise vertiefte, tröstete Milford sich, so gut es ging, mit der Beobachtung, dass Billings das Dünnhäutige, rosa Angelaufene eines für einen frühen Herzinfarkt vorgesehenen Kandidaten hatte. Er war nicht größer als seine Frau. Im Gesprächmit Lorena kam der lange, dünne Milford sich sehr hoch vor, als stehe er buchstäblich auf Prousts metaphorischen Stelzen der Zeit. Wenn er es bedachte, war er bei weitem alt genug, ihr Vater zu sein, aber in der Gesellschaft des Reisebusses – eine Art Schulbus, mit den Disziplinproblemen auf den hinteren Sitzen und den Schleimern ganz vorn bei den Lehrern – waren sie alle in derselben Klasse.
Staubige Dörfer und grüne Reisfelder zogen an den Fenstern vorbei. Händler und Bettelmönche drängten sich an der Tür, wann immer
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