Die Tränen meines Vaters
Hotelgästen, die, von einem Feueralarm in den Garten gejagt, in ihrer Hast sich irgendwelche bunten Tücher geschnappt hatten, um sich zu bedecken.
Außer Lorena: diese bronzehaarige amerikanisierte Latina sah in Milfords Augen aus, als sei sie dazu geboren, einen Sari zu tragen oder zumindest diesen besonderen; die blassgrüne Bordüre rahmte ein rötliches mysteriöses Muster, das im flackernden Licht an rosige Daumenabdrücke denken ließ. Ihre Augen waren fast golden. Er war zu ihr gegangen in der Absicht, ihr etwas Herzliches, Schmeichelhaftes über ihre Aufmachung zu sagen, aber es verschlug ihm die Sprache, als er sah, wie sie in einer Art schamloser Bescheidenheit dem gewickelten, gefalteten und festgesteckten Stoff ihre Körperform gegeben hatte – das einladende breite Becken, den vom Fitnesstraining flachen Bauch.
Seine Stimme kam krächzend: «Phantastisch», sagte er.
Sie wirkte verlegen, wie aus dem Hinterhalt von dieser neuen Version ihrer Schönheit überfallen. Ihre Schultern wölbten sich defensiv nach vorn, und in einem New Yorker Jammerton fragte sie: «Es gefällt Ihnen?»
Milfords angegriffene Stimme erholte sich ein wenig. «Ich finde es hinreißend», sagte er und fügte im Spaß hinzu:
«De verdad.»
Er wollte an ihr vorbeigehen und sie der Gesellschaft ihrerUpper-East-Side-Freunde überlassen, aber – ein leichtes Stolpern auf dem unebenen Rasen möglicherweise – sie machte einen Schritt zur Seite und versperrte ihm den Weg, so wie Jean es manchmal machte, wenn sie sagen wollte:
« Sieh
mich an!» Lorena fragte: «Kommen Sie und Jean jemals nach New York?»
«Früher ja, aber jetzt fast nie mehr», sagte er und wollte der Erscheinung entfliehen.
Die von Fackeln erhellten nächtlichen Abschiede schrillten in seinen Adern, als Milford, mit dem Gesicht nach unten, neben seiner schlafenden Frau im Bett lag, und ihm war, als stünde er noch einmal Lorena gegenüber, von Körper zu Körper. Einige Abende zuvor war die ganze Reisegesellschaft, bis auf die Ältesten und Gebrechlichsten, zu einem riesigen mitten in der Stadt gelegenen Tempel gefahren worden, wo jede Nacht eine Gruppe barbrüstiger, schwitzender Priester eine kleine Bronzestatue von Parvati, mit Blumen bekränzt, aus ihrem Heiligenschrein nahm und sie durch die Tempelgänge trug, dass sie bis zum Morgen mit ihrem Gemahl, Lord Shiva, zusammen sei. Die Bronzestatue, nicht annähernd lebensgroß, wurde in einer verhängten Sänfte getragen, es war also nichts zu sehen, nur die vier Brahmanenpriester, auf deren Schultern die Stangen der Sänfte lagen, und die anderen Priester, die die Prozession mit Trommeln und Rufen und grauenhaften langen Trompetenstößen begleiteten. Die Priester trabten, sie gingen nicht, und sie hielten nur an, um der verborgenen Göttin ein Ständchen zu bringen. Die Trompete spielte in orgiastischer Verzückung, die Milford unheimlich an die Musik eines jüngeren Kontinents, an Jazz, erinnerte. Die Masse sensationshungriger Touristen und gottsuchender Hindus rempelte und stürmtevorwärts im Gefolge der schnell sich bewegenden Prozession; Blitzlichter blitzten, und Ian Billings, den Arm erhoben wie die Freiheitsstatue, nahm alles auf Video mit seiner Digitalkamera auf, deren intensiv leuchtender kleiner Bildschirm projizierte, was die Linse sah – hüpfende Körper, ruckende Köpfe, die verhängte Sänfte –, und verriet, über dem tobenden Pack, seinen und seiner eigenen Gemahlin Aufenthaltsort.
Milford folgte in einem scheuen, ältlichen Abstand, aber dank seiner Größe konnte er in den Pausen, wenn die Prozession anhielt und trommelte und trompetete, wie um die übernatürliche Billigung zu erneuern, die kreisenden, schwitzenden, leergesichtigen Priester sehen. Einer von ihnen sah anormal hell aus; er grimassierte und blinzelte durch die Weihrauchschwaden auf eine skeptische moderne Art – ein Bekehrter vielleicht, nur dass der Hinduismus unter seinen für sich bleiben wollenden Hunderten Millionen keine Bekehrten wünschte.
Nach einer letzten geräuschvollen Pause eilte die Prozession den Gang zu Shivas Heiligenschrein hinunter, und dorthin zu folgen war Nicht-Hindus untersagt.
Schlaflos so kurz vor der Abreise, sah Milford, dass dies Wahrheit gewesen war, irdische und transzendente Wahrheit, die anbetende Hingabe eines Körpers an einen anderen, die verborgenen Götter Shiva und Parvati vereint, umgeben vom Schmutz und Wirrwarr des Zufalls, des Karmas. Er war glücklich, noch einmal die
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