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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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musste. Sein Unterrichten war Pflichterfüllung gewesen und sein Touristsein jetzt auch. Die Wunder der Welt kamen ihm erschöpft vor, überwältigt von den Massen, die sie besichtigen wollten. Auch der Reisegruppenleiter schien nach zwei Wochen, in denen er schreien musste, um sich Gehör zu verschaffen über dem hallenden Lärm in Tempeln und dem schlurrenden Durcheinander in Museen, das Interesse zu verlieren und sich auf seine nächste Tour zu freuen, die zu den Burgen Deutschlands führen sollte. Die erfahrenen Reisenden in der Gruppe erklärten den Milfords, dass auf dem Rhein alles einfacher und konzentrierter sei; man blieb in seiner Kabine auf dem Schiff, anstatt per Bus den ganzen Süden Indiens abzuklappern und ewig auszupacken und wieder einzupacken.
    Als der Enthusiasmus des Gruppenleiters erlahmte, übernahm seine einheimische Assistentin, Shanta Subhulakshmi, eine untersetzte dunkle Frau aus Madurai und zur Kriegerkaste gehörig, im Bus das Mikrophon und sprach schüchtern, aber fließend von sich selbst – von der ungewöhnlichen Entscheidung ihrer Eltern, dass sie eine Ausbildung absolviere, von der prunkvollen Etikette ihrer arrangierten Hochzeit (die vorausgesandten Boten, die zeremoniellen Besuche, die Absonderung der Braut und des Bräutigams voneinander). Sie sprach von den Straßen von Tamil Nadu, wie sie früher, als sie ein Mädchen war, durch smaragdgrüne Reisfelder führten, Feld auf Feld, bis dann die Industrieparks kamen und die rücksichtslose Verbreiterung der staubigen, von Schlaglöchern zernarbten Straßen. «Die Straßen sind in erbärmlichem Zustand», sagte sie. Sie hielt ein Plädoyer zugunsten des Hinduismus, wie Milford es nie gehört hatte. «Anders als der Buddhismus und das katholische Christentum», erklärte Shanta in ihrem präzisen, melodischen Englisch, «preist der Hinduismus nicht das zölibatäre Mönchstum. Er lehrt, dass das Leben Stadien hat, und jedes Stadium ist heilig. Er sagt, dass Sexualität Teil des Lebens ist und die Arbeit auch – ein Mann verdient den Lebensunterhalt für seine Familie und erfüllt so seine Pflicht gegenüber der Gesellschaft. Im letzten Stadium des Lebens darf er seine Familie und die Arbeit verlassen und auf die Suche nach Gott und des Lebens tiefster Bedeutung gehen. Aber die mittleren Stadien, die weltlichen Stadien, sind auch heilig. So lässt der Hinduismus das Leben in seiner ganzen Fülle zu, während der Buddhismus Verzicht und inneres Losgelöstsein lehrt. Der Hinduismus ist die älteste der Religionen und wird immer noch weithin praktiziert, und er ist auch die modernste,insofern ihm nichts fremd ist. Es gibt keine Hindu-Ungläubigen. Selbst unsere Teilchenphysiker und Computerprogrammierer sind gute Hindus.»

    Shanta half den Frauen der Reisegesellschaft, sich für das Abschiedsdinner in Saris zu kleiden. Die Saris stammten von kleinen Einkaufsbummeln zwischen den langen Busfahrten (manche entlang einer Küste, vom Tsunami des vergangenen Jahres so leergefegt wie eine Wüste) und den Besuchen der großen Tempel, dieser schmutzig-dunklen Labyrinthe, gekrönt von hochragenden polychromen Pyramiden aus Göttern, Götter über Götter, deren vorquellende Augen und herausgestreckte Zungen und zahlreiche Arme göttliche Kraft bedeuteten.
    Jean, die sparsame Neuengländerin, argumentierte, dass sie nie wieder Gelegenheit haben werde, einen Sari zu tragen, und kreuzte in ihrem besten Hosenanzug auf. «Diese Sachen, die Leute sich in den Ferien kaufen, vor lauter Begeisterung, in einer fremden Umgebung zu sein», sagte sie, «sehen so flitterig und billig aus, wenn man wieder zurück ist in der realen Welt. Sie sind bloß Staubfänger hinten im Wandschrank.»
    Die luxuriösen New Yorker Ehefrauen jedoch trugen Saris; ihre Seiden- und Satinstoffe schimmerten im Feuerschein der Fackeln auf dem Rasen, während mit aufgeregten Stimmen gerufene spanische Komplimente unter den Palmen hin und her flogen.
    «Qué bonita!»
    «Tu eres una India! De verdad!»
    Aber in Wahrheit war die Kostümierung für die wenigsten Frauen schmeichelhaft: die elegant dünnen wirkten dürrund halb verhungert, und die mit mehr Fleisch schienen sich unwohl in ihrer Verpackung zu fühlen, als könnte jeden Augenblick irgendwo etwas aufgehen. Milford hätte nicht gedacht, dass ein Kleidungsstück, das nur aus einer Unterbluse und ein paar Quadratmetern Stoff bestand, irgendjemandem nicht passen könnte, aber die Frauen ähnelten im Fackelschein einer Traube von

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