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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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viel Ahnung zu haben und hat dauernd in mein armes rotes Gesicht gestarrt.»
    «Armer Dad. Tommys Geburtstag war zwar schon letzte Woche, aber er wird begeistert sein. Ich rufe ihn aus der Scheune rein. Er hilft Greg gerade bei irgendwas.»
    «Lass ihn. Wenn er doch was Nützliches tut. Ich lass King Kong einfach hier.»
    «Sei nicht albern, Vater. Tommy fragt dauernd: ‹Wann kommt Grandpa und besucht uns?›»
    Grandpa
– Fleischer konnte sich mit dem Namen nicht identifizieren, ein besserer fiel ihm aber nicht ein. Er hatte seinen eigenen Großvater so genannt, mit dem er zusammengelebt hatte, bis der liebe alte Mann starb. Den Kopf zurücklehnend, um besser durch die untere Hälfte der dicken Zweistärkengläser sehen zu können, hatte sein Großvater in seinem Lieblingssessel die Zeitung und die Bibel gelesen und auf der Veranda Zigarren geraucht und einen Schluck Whiskey getrunken in seinem Schlafzimmer, in dem es wunderbar nach vergangenen Sitten und Arzneien roch. Jeden Tag seines jungen Lebens erwachte Fritz zu den Geräuschen seines Großvaters, der seinen zähen Tabakhusten hustete, leise mit Grandma sprach, in seinen knarrenden Knöpfstiefeln die Treppen hinauf- und hinunterging und im Kohlenheizofen im Keller die Asche herunterrüttelte. Als die Depression hereinbrach, hatten seine schwangere Tochter und sein arbeitsloser Schwiegersohn bei ihm Zuflucht gesucht und aus Dankbarkeit ihrem Kind seinen Namen gegeben. Fritz, ein solider alter deutscherName. Eines der Katzenjammer Kids im sonntäglichen Comicstrip hatte Fritz geheißen.
    Keiner seiner Enkelsöhne hatte den Namen Fritz bekommen. Tommy, seinen kleinen Bruder Teddy im Schlepp, kam von der Seitenveranda herein. Der Neunjährige, die nackte Brust glänzend von Schweiß, sah beunruhigend schwammig aus. Teddy war mit seinen sechs Jahren noch sehnigmager, aber seine Haare, blond, mit ein bisschen Scheunenstroh vermischt, hingen ihm lang um die Schultern, und nur weil Fleischer in der Klinik gesehen hatte, wie das Kind gebadet wurde, wusste er, dass es kein Mädchen war. Die Jungen kamen zu ihm, um sich zur Begrüßung umarmen zu lassen, taten freilich nichts, ihm die Umarmung zu erleichtern, standen einfach nur schlaff da und hoben nicht einmal die Gesichter, sodass für seinen Kuss bloß ihre Ohren zugänglich waren. «Ich hoffe, du hast dies nicht schon», sagte er in mattem Ton zu Tommy und gab ihm das lange flache Päckchen. Er hatte mehrere Stunden in der Einkaufsabteilung und am Verpackungstisch zugebracht und den Postkartenständer im Drugstore immer wieder gedreht, auf der Suche nach einer angemessen launigen, aber nicht anstößigen oder boshaften Geburtstagskarte.
    Mit einer einzigen Bewegung riss der Junge die Verpackung auf und sah auf dem Karton den rasenden Gorilla, die gewaltigen Kiefer weit aufgesperrt, um ein komplettes limonenfarbenes Auto zu verschlingen. «Jippiii!», schrie er, in einer, wie Fleischer fand, geheuchelten Begeisterung. «Das ist genau das, was ich mir von Mom gewünscht habe und was sie mir nicht geschenkt hat.»
    «Das Ding sieht ziemlich rabiat aus», bemerkte sein Großvater vorsichtig. «Warum sollte selbst ein Ungeheuer Metallbrockenzerkauen?» Im Stillen dachte er, dass der Junge mit seinem wabbeligen, aggressiv nackten Oberkörper vermutlich ein paar Pfunde verlöre, wenn er sich weniger mit Computerspielen beschäftigte.
    Gretchen, die den kritischen Unterton in der Stimme ihres Vaters hörte, mischte sich mütterlich ein: «Dad, die neueste Ansicht scheint zu sein, dass die Gewalt bei diesen Spielen, wie grässlich auch immer, Kindern
gut tut
. Sie gibt ihren Phantasien eine Form und führt zur Abreaktion. Denk an Aristoteles’ alte Theorie von der Katharsis – kommt es nicht aufs Gleiche hinaus?»
    «Ich wusste nicht, dass du Aristoteles liest. Ich wusste nicht, dass überhaupt jemand das noch tut.» Zu seinem Enkelsohn sagte er: «Hab Spaß, Tommy. Teddy, sieh zu, dass er dich ab und an auch mal ranlässt.»
    Aber die Jungen hörten nicht mehr zu. Der Ältere sagte greinend zu seiner Mutter: «Ich
muss
zurück, Daddy helfen», und der Jüngere hatte es aufgegeben, erwartungsvoll seinen Großvater anzusehen. «Nächstes Mal, Teddy», beschied Fleischer ihn knapp. «Heute hast nicht du Geburtstag.»
    Trotzdem, die unausgesprochene Enttäuschung des Jungen schmerzte ihn. Das mädchenhafte Kind erinnerte ihn nicht an Gretchen, als die in dem Alter war, sondern an den bodenlosen Brunnen hoffnungsvoller

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