Die Tränen meines Vaters
Erwartung, den er mit sechs Jahren in sich gefühlt hatte, gegen alle Vernunft, denn um ihn herum hatte die Depression geherrscht. Optimismus und die hilflose Abhängigkeit, geliebt zu werden, sah er mit der widerstrebenden Weisheit des Alters, sind die dürftigen Überlebenswaffen, die wir mit uns auf die Welt bringen. Fleischer wollte immer noch geliebt werden, sowenig er es auch verdiente. Er saß mit Gretchen bei Kräutertee undkonnte kaum glauben, dass seine kleine Tochter, die ihre Schenkel gehasst hatte, nicht nur eine Frau geworden war, sondern eine zählederne in Jodhpurs, bewandert in der Reitkunst, der Werbung, der Mutterschaft und, wie er missmutig annahm, im Sex.
Als es Zeit für ihn wurde aufzubrechen, verwirrte ihn – in Anbetracht ihrer Beziehung zueinander – die Art, wie sie sich verabschiedete: sie küsste ihn mitten auf den Mund. Zurücktretend warf sie ihm einen raschen Blick von der Seite zu, ihre Wirkung prüfend, und sah in diesem Augenblick auffallend – durchdringend – wie ihre Mutter aus. Corinne war die jüngste seiner Frauen gewesen und die am wenigsten einsichtige, was sein Fortgehen von ihr betraf. Sie hatte nicht gewollt, dass er sie verließ; sie zweifelte, mehr als ihre beiden Vorgängerinnen, an ihrer Fähigkeit, die Freiheit zu genießen und eine neue Bindung einzugehen. Ihre Unsicherheit, ihre schüchtern kundigen Küsse, hatten zu den anfänglichen Faszinationen gehört. Nach zwei turbulenten Ehen mit so gut wie ebenbürtigen Frauen seines Alters weckte Corinne den Beschützerinstinkt in ihm. Aber dann erregte ihr Hang zur Panik, zur Angst, ihm nicht gewachsen zu sein, seine Fähigkeit zur Ungeduld und, am Ende, zur Grausamkeit. Unter dem Ansturm ihrer flehentlichen Bitten und Tränen im letzten Jahr war er zu Stein geworden.
Gretchen war erst sieben gewesen, eine großäugige unschuldige Zuschauerin. Corinne hatte sich mit der Lage schließlich einigermaßen abgefunden, war an die South Shore gezogen und hatte eine dieser postmodernen Wohngemeinschaften mit einem etwas jüngeren Mann gegründet.
Fleischer war insgeheim verletzt und kam sich wie ein Hahnrei vor. Wenn sie sich nur nicht so unsicher verhaltenhätte, ihn küssend, den Kuss aber dann mit einer fragenden Ironie gleichsam zurücknehmend – Selbstschutzverhalten, rührend bei einer Tochter, aber schwer zu verzeihen bei einer Ehefrau –, Corinne könnte immer noch bei ihm sein, ein Vierteljahrhundert später. Er hatte die kindliche vertrauensvolle Art geliebt, wie sie schlief, die nackten Zehen unter den Decken hervorlugend, einen weichen runden Arm über das Gesicht gelegt, den rosa Ellbogen in die Luft gereckt.
Fleischer und Gretchen trennten sich auf der langen Seitenveranda, wo säuberlich aufgestapelt das Holz für den kommenden Winter lag. Sein Gesicht fühlte sich heiß an; die blitzartige Ähnlichkeit mit ihrer Mutter hatte einen wunden Punkt in ihm entflammt.
Tracy, seine zweite Frau, hatte in der Sonne eine schöne dunkle Bräune bekommen. Sie hatten viele Tage ihrer kurzen Ehe zusammen am Strand verbracht, auch wenn Fleischer Sonnenbrand bekam, während sie die Farbe einer Polynesierin annahm. Er hatte gehofft, dass etwas von ihrem Melanin auf ihn abfärben würde, aber sie behielt alles für sich selbst. Rasch bei der Hand mit dem Heiraten, sobald sie die Scheidungen von anderen unter Dach und Fach hatten, waren sie schnell zu einem Kind gekommen – einem Sohn, Geoffrey. Sie nahmen ihn früh an den Strand mit, in seinem cremefarbenen Wachstuchbabywagen, über den sie Musselintücher breiteten, um die Sandfliegen fernzuhalten und die Mittagssonne zu dämpfen. Als er etwa zwei war, wurde klar, dass er die Haut seiner Mutter geerbt hatte. Die Sonne konnte ihm nichts anhaben.
So schien es; Fleischer bemerkte, dass Geoffrey selbst als Teenager, als seine Eltern längst geschieden waren, einenblassen Stubenteint pflegte und es ablehnte, sich freiwillig der Sonne auszusetzen. Er wurde als Mann so nüchtern und umsichtig, wie seine Mutter als Frau rücksichtslos und umwerfend gewesen war. Als sie und Fleischer noch mit anderen verheiratet waren, hatte Tracys weißes Lächeln im braunen Gesicht ihm am Strand von weitem ein Zeichen gegeben, wie ein Signalfeuer am Horizont. Wenn Tracy dann zu der Stelle kam, wo er dösig, wuschelig verkatert neben seiner ersten Frau auf einer Decke lag, und sie dicht neben ihm stand, hatten ihre langen nackten Beine, so kam es ihm vor, fast bis zum Himmel gereicht. Ah,
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