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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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dachte Fleischer; er dachte, dass seine Sünden so offenkundig seien wie das versengte fleckige Aussehen seines Gesichts.
    Martins Interessen galten eher dem Mechanischen als dem Künstlerischen, und seine durchdachten Lego-Konstruktionenund seine immer besser gelingenden Versuche beim Tischlern gaben seinem Großvater wenigstens dann und wann Gelegenheit zur Bewunderung und sogar, durch hilfreiche praktische Fragen, zum Mitmachen. Aber mit Bauklötzen und Werkzeugen zu spielen hatte Fleischer seit Jahrzehnten hinter sich, und das entfachte Interesse des Kindes erlosch flackernd, als es fühlte, wie die für einen kurzen Augenblick erwachte Aufmerksamkeit des Großvaters abschweifte. Enkelkinder wurden in einer fremden Technologie herangebildet, einer elektronischen mit verstärkten Geräuschen und simulierter Gewalt, die für nicht mehr junge Ohren und Hände zu schnell und zu verschlüsselt war. Fleischer betrachtete seine Enkelsöhne nach wie vor als Erweiterungen seiner selbst, aber der, dem wahrhaft sein Interesse galt, war sein eigener, rätselhaft verwundeter Sohn.
    «Wie geht’s?», fragte er Geoffrey und überließ es seinem Sohn, zu entscheiden, was mit der Frage gemeint war.
    «Okay», sagte er. «Sie macht immer noch Theater, aber es wird besser.» Das Pronomen «sie» bezog sich zwangsläufig auf Eileen. «Der letzte Berater hat geholfen», setzte er hinzu.
    Es war offensichtlich für jeden, sogar für seinen Vater und seine Söhne, dass nichts mehr helfen würde, dass die Ehe vorbei war, nur nicht für die beiden Hauptbetroffenen. Vielleicht war es eine Familienschwäche, spekulierte Fritz, nicht zu wissen, wie man loslässt. In seinem Herzen fühlte er sich immer noch mit allen drei seiner Frauen verheiratet: die Ehen bestanden im Untergrund weiter, durch Tunnel der Zuneigung und des einander Verstehens. Manchmal, wenn er zu lange blieb oder zu weit ging, musste die eine oder andere ihn daran erinnern, dass die Verbindung zwischen ihnen gelöst war. Frauen, die sich mehr um ihr Überlebenkümmern müssen als Männer, sind am Ende weniger sentimental.
    «Es ist schwierig» war alles, was Fleischer einfiel, während er mit seinem einzigen Sohn dasaß und seine eigenen Züge in dessen störrisch kummervollem alternden Gesicht sah und aus dem Nebenzimmer das gedämpfte Getöse seiner Enkelsöhne zu ihm drang, die die Zeit totschlugen, bis sie keine Kinder mehr waren und dieser Vorhölle entfliehen konnten. Ein hilfloses, schuldbewusstes Schweigen dehnte sich zwischen den beiden erwachsenen Männern. Um es zu durchbrechen, fragte Fleischer: «Sieht mein Gesicht rot aus?»
    Geoffrey sah ihn kurz an und sagte: «Ich glaube, ja. Aber es hat immer irgendwie rot ausgesehn.»
    «Tatsächlich? Es wurde vor zwei Wochen in der Klinik mit Strahlen beschossen. Ich kam mir wie eine sonnengedörrte Tomate vor.»
    «Davon ist jetzt kaum noch was zu sehen. Du siehst nicht so schlimm aus, Dad.»
    In Fleischer stieg Ärger hoch. «Geoffrey, du siehst überhaupt nicht hin! Du bist mit deinen Gedanken anderswo.»
    «Du hörst dich an wie meine Frau. Sie sagt das auch immer.»
    Zusammen sannen die beiden Männer schweigend über das unermessliche Vergnügen nach, das es dem Jüngeren bereitete, immer noch «meine Frau» sagen zu können.

    «Dad, was hast du mit deinem Gesicht gemacht? Es sieht
schön
aus!» So sprach sein ältestes Kind, Aurora, vier Wochen nach seiner Sitzung bei Sheela.
    Er errötete, seine Haut erinnerte sich an die Hitze des blauen Lichts. «Wirklich? Zuerst sah es grauenvoll aus – geschwollenund ganz rot. Ich habe aufgehört, in den Spiegel zu sehn, als es sich etwas beruhigt hatte.»
    «O nein», sagte seine Tochter und strahlte. «Mehr als ein bisschen. Dad, ich habe dein Gesicht nie so glatt gesehn. Du siehst zehn Jahre jünger aus.»
    Er lachte, gierig. «Zehn Jahre? Das ist mehr, als ich verdiene.»
    «Warum so reden? Halt dich ran, du wirst sehn.» Aurora war lebenslustiger als Gretchen, zufriedener in ihrem Körper. Vielleicht wegen ihres New-Age-Namens, den die jungen Eltern ihr vorzeitig, im ersten Ansturm der Macht und Freude, Leben zu zeugen, gegeben hatten, war Aurora auf ihre Gesundheit und ein harmonisches Verhältnis zur physischen Welt bedacht: sie joggte, machte Yoga, kochte nach makrobiotischen Prinzipien und wäre Vegetariern geworden, hätte nicht ihr Mann, ein traditionsbewusster Kenianer, die Ansicht vertreten, dass seine beiden Söhne mit Fleisch ernährt werden müssten. Sie

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