Die Tränen meines Vaters
mit Brahma. Brahma ist, neben Vishnu und Shiva, eine Hauptgottheit. Auch wenn er es nicht zu den Legenden und Tempeln der beiden anderen gebracht hat. Die Menschen lieben Brahma nicht so, wie sie die beiden anderen lieben. Aber über ihnen ist Brahman. Er ist, was Sie als den Dreieinigen Gott bezeichnen würden, er entzieht sich jeder Beschreibung. Er kommt Ihrem christlichen Begriff von Gott am nächsten. Sie haben jetzt mehr als sechs Minuten geschafft. Fast die Hälfte.»
«Glaubt irgendjemand an Ihn? An Es?»
«Zahlreiche Millionen», versicherte Sheela ihm, und ihre sanfte Stimme verhärtete sich ein wenig. «Es gibt keine ungläubigen Hindus.»
«Verlangt Er von Ihnen, Schuld zu empfinden?»
Zelle auf Zelle, so schien es Fleischer, entzündete sich in ihm, eine mikroskopische Sonne nach der anderen.
Ihre Stimme war wieder fröhlich. «Nein, wir sind nicht wie Amerikaner. Wir sind noch zu arm für Schuldgefühle. Ich möchte aber nicht leichtfertig klingen. Jeder Hindu fühlt sich an einen bestimmten irdischen Platz gestellt und versucht, die Rolle auszufüllen. Jeder, vom Maharadscha bis hinunter zum verkrüppelten Bettler, tut, was ihm vorgeschrieben ist. Das ist es, was Krishna auf dem Schlachtfeld in der Bhagavadgita zu Arjuna gesagt hat: ‹Sei ein Krieger›, sagte er, ‹und sorge dich nicht, ob es moralisch gerechtfertigt sei zu töten.› Sie haben jetzt über acht Minuten hinter sich. Von jetzt an, versichern mir die meisten Patienten, wird es leichter. Es geht bergab. Fühlen Sie das schon?»
«In meinem Alter», verkündete Fleischer aus dem Zentrum seiner brennenden Blindheit, zwischen Lippen hervor, die immobilisiert waren durch eine Maske nach innen gerichteter Nadeln, «geht alles bergab.»
Jede der drei Frauen Fleischers hatte ein Kind geboren – Mädchen, Junge, Mädchen. Die wiederum hatten jeweils zwei Kinder hervorgebracht, merkwürdigerweise alles Jungen. Merkwürdig war auch, dass sie alle, entgegen den Tendenzen amerikanischer Unabhängigkeit und amerikanischen Unternehmungsgeists, sich in alle Winde zu zerstreuen, eine Autostunde entfernt von dem Condo in Swampscott lebten, in das er sich zurückgezogen hatte. Sich schuldig fühlend, weil er ein so unzulänglicher Großvater war – anders als die Großväter in Fernsehwerbespots ging er mit seinen Enkelsöhnen nie zum Angeln oder auf idyllische Golfplätze –, gab er sich Mühe, jede Familie einmal im Monat zu besuchen. In den Wochen nach seiner Blaulichtbehandlung hätte er sich lieber in seinem stickigen Junggesellenquartier verkrochen,die Vorhänge zugezogen, damit ja kein Lichtstrahl hereinfiel, und in der Ecke den Fernseher murmeln und seine Elektronen mischen lassen wie einen Geistesgestörten, der Patiencen legt.
Aber einmal Vater, immer Vater. Schuldbewusste Gewohnheit trieb ihn hinaus. Seine jüngere Tochter lebte in einem breit hingelagerten Farmhaus, das seine Ländereien zum größten Teil verloren, aber noch seine Scheune und die lange Seitenveranda hatte. Die Tochter und ihr Mann betrieben in einem, wie es Fleischer schien, prekären Arrangement mit der realen Welt in der Scheune einen Reitstall und aus ihrem Souterrain heraus eine Werbeagentur, ländliche Bohemiens, angeschlossen ans World Wide Web. Einst sein schüchternstes, pummeligstes Kind, hatte Gretchen sich mit Anfang dreißig das schlanke, sonnengestählte Selbstvertrauen einer Reiterin zugelegt und, damit einhergehend, eine herzhafte, nicht immer willkommene Direktheit. «Dad», begrüßte sie ihn, «was ist mit deinem
Gesicht
passiert? Es ist so
rot
. Tut es weh?»
«Hat es. Aber jetzt nicht mehr. Du hättest mich vor fünf Tagen sehn sollen. Ich sah monströs aus. Nicht bloß rot, sondern dick geschwollen, als hätte ich einen Boxhieb gekriegt.»
Gretchen blinzelte, widersprach ihm aber nicht. Wie sollte sie auch. Sie war nicht dabei gewesen, in dem Raum mit dem erbarmungslosen blauen Licht. Trotzdem ärgerte er sich, er fand, dass ihm mehr Mitgefühl zustand, als er bekam. Er fuhr fort: «Ich wollte mich eigentlich verkriechen, aber dann fiel mir ein, dass Tommy gestern Geburtstag gehabt hat, und ich wollte nicht, dass er denkt, ich hätte ihn vergessen. Hier. Ich habe ihm das elektronische King-Kong-Spiel mitgebracht, ich meine, er hätte gesagt, dass er es gernhaben will, weil er im Fernsehen eine Werbung dafür gesehen hat. Der Junge, der mich in Circuit City bediente, war der Ansicht, dies müsste es sein, was ich wollte, aber er schien nicht
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