Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
Vom Netzwerk:
und suchen Sie sich ein Magazin aus.» Andere saßen schon da und warteten, die meisten in vorgerücktem Alter wie er, alle nordeuropäisch blass oder rosa im Gesicht, aber ihre Hauthatte nichts Auffälliges, soweit er die sehen konnte. Wir sind alle, dachte Fleischer, Opfer derselben Reklame, derselben mit dem Airbrush retuschierten Photos von zwanzigjährigen Models, derselben absurden amerikanischen Träume von Selbstperfektion. Ein neuer Mensch, dass ich nicht lache.
    Er griff zu einer zerfledderten einen Monat alten Ausgabe von
People
und las von Berühmtheiten, die sich scheiden ließen, schwanger wurden, ihre unglückliche Kindheit gestanden, ein afrikanisches Waisenkind adoptierten. Er hatte von den meisten dieser schönen Menschen nie gehört, aber schließlich war er lange der Finanzwelt verhaftet gewesen, hatte das
Wall Street Journal
und seine Zahlenkolumnen studiert, seine Gerüchte von Pleiten und Fusionen. Jetzt, da er seine Bostoner Firma verlassen hatte und in den Ruhestand gegangen war, hatte er angefangen, die Klassiker seiner College-Jahre wieder zu lesen – Dickens, Dostojewski –, und fand seinen grünschnäbeligen Eindruck von damals, dass sie geschwätzig und langweilig seien, überraschend oft bestätigt, nur dass er jetzt nicht unter dem akademischen Zwang stand, ein Buch zu Ende zu lesen. Er brachte eine Stunde am Tag damit zu, gemeinsam mit anderen Ruheständlern spazieren zu gehen, auf dem mit Apartmenthäusern gesäumten Weg oberhalb des schmutzigen Strandes, von wo man in der Ferne die sepiabraunen Wolkenkratzer Bostons sehen konnte, wie eine tiefhängende Wolke. Er beobachtete seine Kapitalanlagen. Er versuchte halbherzig, mit seinen drei erwachsenen Kindern und deren Kindern in Kontakt zu bleiben.
    Der Blaulichtapparat war weniger kompliziert, als er gedacht hatte. Er war wie ein dickes großes Hufeisen geformt, umschloss im Halbkreis seinen Kopf und badete sein Gesicht in einer summenden Helligkeit. Seine Augen warenmit kleinen dunklen tassenförmigen Schutzgläsern bedeckt; Sheelas Stimme leistete ihm Gesellschaft in seiner Blindheit. «Die Leute sagen», sagte sie, «am schlimmsten prickelt es in den ersten fünf Minuten, danach ist es nicht mehr so unangenehm.»
    Fleischer hatte einen großen Teil seines Lebens in Strandnähe verbracht, und weil er kein anderes Mittel gegen Psoriasis kannte als ungefiltertes Sonnenlicht, hatte er sich mehr der Sonne ausgesetzt, als gut war – hatte im windigen Frühling in den schützenden Dünen gelegen und im Hochsommer sich mit dem Gesicht nach oben im warmen Meer treiben lassen, rings um ihn glitzernde, hüpfende Perlen und Pailletten reflektierten Sonnenlichts, und im kühlen Herbst hatte er die letzten schrägen Strahlen ausgenutzt. Jetzt wurden, zu Sekunden komprimiert, die Empfindungen, die er bei jenen langen Sonnenbädern gehabt hatte, wiederbelebt und grimmig verstärkt. Licht presste sich durch die Schutzgläser und seine Augenlider und glühte rot auf seiner Netzhaut. Hitzenadeln wurden ihm tief ins Gesicht gestoßen. Er konnte fühlen, wie an jeder Nadelspitze unreife Zellen explodierten gleich winzigen Knallfröschen.
    Sheela goss ihre heitere Stimme über seinen Schmerz: «Sie haben zwei Minuten hinter sich. Wie fühlt sich’s an?»
    «Prickelnd», sagte Fleischer.
    «Ich kann den Apparat jederzeit ausschalten und nach einer Weile wieder einschalten», sagte sie. «Viele Patienten sind dankbar dafür.»
    «Nein, lassen Sie uns weitermachen.» Es gefiel Fleischer zu reden, während er geblendet war. Seine Gesprächspartnerin, die er nicht sah, füllte den Raum und gab der unentrinnbaren Helligkeit eine Stimme.
    «Mein Angebot gilt jederzeit», fuhr sie fort. «Viele Patienten stellen fest, dass sie das Gefühl nicht aushalten.»
    «Erzählen Sie mir», sagte Fleischer, während das Feuer, das seine Wangen und seine Stirn verzehrte, sich tiefer unter seine Haut brannte, «vom Hinduismus. Gibt es dort einen Gott oder nicht?»
    «Es gibt eine große Anzahl von Gottheiten.»
    «Ich meine», sagte Fleischer, als ob seine Qual ihm die Rechte eines Suchenden gäbe – als ob geblendet zu sein ihn zum Seher machte –, «abgesehn von alldem, von Shiva und Shakti und so fort, einen überwölbenden Gott – ein Fundament alles Seienden, sozusagen.» Vor seinem inneren Auge gruben die Lichtnadeln sich in ihn wie Krallen, jede Spitze giftgetränkt.
    «Wir nennen das Brahman», antwortete Sheelas körperlose Stimme. «Nicht zu verwechseln

Weitere Kostenlose Bücher