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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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Stipendien im Ausland – all das. Ich war nicht so. Gib mir die Schuld›, sag ich ihm.»
    «Du hast andere Prioritäten gesetzt.»
    Sie musste lachen; die Bemerkung zeigte ihr das Bild, das ihr Vater von ihr bewahrt hatte: ein nicht im Zaum zu haltendes Mädchen. Ihr Lachen wurde in der Mitte durchgeschnitten, als sie den Kopf zur Seite wandte. Wie ihre Mutter und ihr Vater war sie früh grau geworden.
Sie ist über
fünfzig
, dachte Fleischer.
Sie weiß, dass ihr Leben zum größten Teil gelebt ist.
    Als Fleischer Kinder in die Welt setzte, hatte er nie daran gedacht, dass sie einmal graue Haare und selber Kinder haben würden. Er hatte einfach nur selbstsüchtig kleine Wesen ins Leben rufen wollen, die zu ihm aufsahen, trotz seiner schlechten Haut, und mit ihrer sonnigen Unschuld sein Leben erhellten. Aber er hatte sie alle verlassen, mit ihren Müttern, als ihre Unschuld dahin war. Und jetzt hatte jedes eine neue Generation erschaffen, zarte Wurzeln in die harte Substanz der Welt ausschickend. Er konnte sich nicht vorstellen, was seine Enkelkinder in der Welt tun würden, wie sie ihren Lebensunterhalt verdienen wollten. Sie waren unreife Zellen, Zentren potenziellen Schmerzes.

Stromausfall
    Die lustigen Wetterfrösche im Fernsehen, immer erpicht auf Katastrophen, die die Quoten in die Höhe treiben, hatten einen heftigen Herbststurm für New England vorhergesagt, mit Starkregen und hohen Windgeschwindigkeiten. Evan Morris, der zu Hause arbeitete, während seine Frau Camilla an der Newbury Street in Boston eine Boutique betrieb, sah dann und wann aus den Fenstern auf die schwankenden Bäume – Eichen, die noch immer ihre rostbraunen Blätter festhielten, Ahorne, die sie in Böen aus Gold und Rot losließen –, war aber nicht beeindruckt von dem hochgeputschten Nachrichtenereignis. Alle halbe Stunde stürzte der Regen nieder, dann zog er sich in einen silbrigen Himmel mit schnell ziehenden, an der Unterseite zerfransten Wolken zurück. Das Schlimmste schien vorüber, als am späteren Nachmittag der Computer unter seinen Augen den Geist aufgab. Die Bilanzzahlen, die er mühselig zusammengestellt hatte, schwanden als Gruppe, wurden in den toten leeren Schirm hineingesogen wie glitzerndes Wasser in ein Abflussloch. Das Haus um ihn schien zu seufzen, als all seine Lampen und kleinen Apparaturen, seine computergesteuerten Schaltuhren und Anzeiger gleichzeitig ausfielen. Diepeitschenden Geräusche von Wind und Regen in den Bäumen draußen durchdrangen die Stille. Ein Balken knarrte. Ein loser Fensterladen knallte zu. Das Tropfen von einer verstopften Dachrinne schlug schwer – wie ein Rowdy, der Aufmerksamkeit will – auf die hölzerne Abdeckung eines Kellerfensterschachts.
    Die Drähte, die das Haus der Morris’ mit Strom, Telephonanschluss und Kabelfernsehen versorgten, führten, von drei Masten gestützt, durch achttausend Quadratmeter Wald. Als der Sturm ein wenig nachließ, ging Evan hinaus in die seltsam leuchtende Luft, um zu sehen, ob er Äste entdecken könne, die auf seine Stromdrähte gefallen waren. Er sah keine, auch keine erleuchteten Fenster im Nachbarhaus, kaum erkennbar hinter den Bäumen, die es im Sommer, wenn sie im Laub standen, vollständig verbargen. Die höchsten Wipfel wogten in einem Wind, den er kaum spürte. Ein Niederprasseln dicker kalter Tropfen schickte ihn ins Haus zurück, wo Schattenverwehungen in den Ecken sich sammelten und der Heizkessel im Keller tickte, als sein Metall sich abkühlte. Ohne Strom, was sollte man da tun?
    Er öffnete den Kühlschrank und war überrascht, dass der ihn nicht mit einem einladenden Licht in seinem Innern begrüßte. Der Kamin im Wohnzimmer dünstete einen bitteren Geruch nach feuchter Holzasche aus. Wind pfiff in Ritzen, von denen er nicht gewusst hatte, dass es sie gab, unter der überhängenden Dachkante und an den Rändern der Windschutzfenster. Er kam sich impotent vor und war belustigt über seine Impotenz, in dieser Notlage. Ihm fiel ein, dass er vorgehabt hatte, ein paar Briefe zur Post im kleinen Geschäftszentrum des Vororts zu bringen und einen Scheck bei der Bank einzureichen. Also hatte er doch etwas zu tun: ersammelte Briefe und Scheck zusammen, zog sich eine hellbraune wetterfeste Reißverschlussjacke an und setzte eine Red-Sox-Kappe auf. Der Einbruchsalarm an der Tür piepte und blinkte, leise, wie für sich selbst. Evan drückte auf den Reaktivierungsknopf; die Anlage verstummte, und er ging zur Tür hinaus.
    Es kam ihm

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