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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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war über fünfzig, eine Tatsache, die ihr Vater kaum glauben konnte, denn deutlicher als bei seinen späteren Kindern erinnerte er sich an ihr neugeborenes Gewicht in seinen Armen, so gefährlich leicht, die winzige Person so unbestreitbar lebendig, dass seine Knie zu zittern begonnen hatten. Aus Angst, er könnte ohnmächtig werden und sie fallen lassen, hatte er sich auf Maureens festes schmales Bett setzen müssen, dort im Stützpunkt-Hospital in Fort Bliss, Texas. Zu jener Zeit gingen die meisten jungen Männer in die Army, obwohl es damals mehr Frieden gab als heute.
    Staunend hatte er in jenen ersten beiden Jahren, als er von Fort Bliss auf die Wharton School of Business in Philadelphia übergewechselt war, beobachtet, wie Aurora jeden Tagein bisschen mehr von der Welt erfasste, ihre langsam fokussierenden schiefergrauen Augen, ihre festhaltenden lavendelfarbenen kleinen Fäuste. Sie war gekrabbelt, konnte dann gehen und dann sprechen mit einem wachsenden Wortschatz, aus dem nach und nach die bezaubernden unwiederbringlichen kleinkindlichen Grammatikfehler verschwanden. Sie sei ein «Qualitäts»-Kind gewesen, hatten er und Maureen gescherzt, selten krank, nie verletzt, das perfekte Kind zum Üben. Sie hatten die Absicht gehabt, mehr Kinder in die Welt zu setzen, aber der Konsens der Fünfziger ging rings um sie in die Brüche, als mühelose Verhütung und ein neuer Hedonismus Einzug hielten. Tracy wartete am gleißenden Strand, und um die Zeit, als John Kennedy erschossen wurde, hatte Fleischer es erreicht, in intimer Umgebung ihre Füße mit den sonnenbraunen Risten und den kirschroten Zehnägeln zu lecken.
    Aurora musste in ihrer Wiege vom Radikalismus berührt worden sein, denn nachdem ihre Eltern sich hatten scheiden lassen und sie in die Pubertät gekommen war, bekundete sie eine breite Vielfalt erotischer Neigungen: andere Mädchen, College-Lehrer, die doppelt so alt waren wie sie, musikalische Drogensüchtige und dunkle Liebhaber aus der Dritten Welt. Aus dieser zwielichtigen Masse untauglicher Gefährten tauchte Hector Kanogori als Retter auf; Aurora und er lernten sich in einem Töpferkurs kennen. Kunst interessierte ihn nur als Hobby, als Erholung von seiner seriösen Arbeit als Assistenzprofessor für Wirtschaftswissenschaft an einem State-University-College südlich von Boston.
    Mr. und Mrs. Kanogori reisen. Als Fleischer, inzwischen in den letzten Tagen seiner Ehe mit Tracy, zusammen mit Maureen, die selbst wieder verheiratet war, wegen der unbesonnenen,untunlichen Affären ihrer Tochter zu einer Beratungsstelle gegangen war, hatte die Therapeutin, den Bleistift aus ihrem Cambridge-Knoten ziehend, gefragt, wofür Aurora sich interessiere, und Maureen hatte ihren ehemaligen Gatten verblüfft, indem sie ohne Zögern antwortete: «Reisen.» Woher wissen Frauen so etwas voneinander? Ja, die Romanzen ihres Qualitätsbabys hatten etwas von Reisen gehabt, und Hector nahm Aurora alle zwei Jahre mit nach Afrika und Asien auf seine akademische Untersuchung der Wirtschaft in den Entwicklungsländern. Ihr Haus in Milton quoll über von Masken, Perlenarbeiten und Statuetten, Andenken an ihre Reisen.
    Alles sehr schön für sie, dachte Fleischer: ein charmantes schwarz-weißes Ehepaar mehr, das Rassengewissen des Westens zu beschwichtigen. Aber was war mit ihren beiden Söhnen? Alfred und Daniel, wie ihr Großvater sie nannte – er hatte Schwierigkeiten, die Kikuyu-Namen auszusprechen, die ihnen zudem verliehen worden waren, in sowohl christlichen als auch heidnischen Zeremonien –, hatten Züge von der robusten Unbekümmertheit ihrer Mutter und von der strengen Würde ihres Vaters geerbt, aber diese Eigenschaften hingen, so empfand ihr Großvater es, in der Luft. In Amerika schwarz genannt, fehlte ihnen, als sie ins Mannesalter kamen, die Straßenschläue und Widerstandskraft schwarzer Amerikaner. Auf ihren Reisen nach Afrika waren sie von anderen Jungen als
wa-zungu
gehänselt worden – als Weiße. In der sie umgebenden höflichen Gesellschaft hatten sie, als die in Schulen durchgesetzte Toleranz und Mannigfaltigkeit hinter ihnen lag, keine Stammeswurzeln, gab es für sie keine selbstverständliche Anerkennung. Bryant Gumble hatte es geschafft und Ralph Bunche und Tiger Woods auch,aber wie viele sonst? Fleischer machte es sich zum Vorwurf, dass er mit seiner kranken weißen Haut und seiner selbstbezüglichen Liberalität es zugelassen hatte, dass in Aurora der Keim der Waghalsigkeit unwidersprochen

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