Die Tränen meines Vaters
Sie war eine Beute von einem anderen Stamm, aus einem Staat, der nicht Pennsylvania war.
Mamie versuchte, ihnen von ihrem Leiden zu erzählen. «Manchmal bin ich ein bisschen ungehalten gegen den Herrn, aber dann schäme ich mich jedes Mal über mich selbst. Er bürdet einem nur so viel auf, wie man dank Seiner Kraft ertragen kann.»
Im theistischen Pennsylvania, dachte David, entwickelten die Leute Philosophien. Wo er jetzt lebte, ließ ein ungehinderter Atheismus die Menschen leiden, mit dem stummen Stoizismus von Tieren. Je intelligenter sie waren, desto weniger hatten sie zu sagen, wenn es ans Sterben ging.
Mamie fuhr fort: «Ich habe noch mal bei Shirley MacLaine nachgelesen, die Passage, wo sie sagt, dass das Leben wie ein Buch ist und dass man herausfinden muss, bei welchem Kapitel man ist. Wenn dies mein letztes Kapitel ist, muss ich es so lesen, aber wisst ihr, ich habe viel Zeit zum Nachdenken, seit ich hier liege, und –» In Mamies breitem, freundlichem Gesicht, fast so blass wie das Kissen, blickten die wässrigen blauen Augen unsicher, bekamen etwas Gehetztes, Ausgetrocknetes. «Ich glaube nicht, dass es das letzte ist», brachte sie den Satz tapfer zu Ende. Selbst flach auf dem Rücken war sie eine Lehrerin, die mehr wusste als ihre Zuhörer und aus lebenslanger Gewohnheit die Lektion erteilen wollte.
«Ich habe keine Angst vor dem Tod», sagte sie den Besuchern, die sich fürs Jahrgangstreffen in feines Tuch gekleidet hatten. «Es ist fest in meinem Herzen beschlossen, dass – dass –»
Ja, was?
, dachte David, begierig, es zu erfahren, obgleich er sich der verrinnenden Zeit bewusst war. Er kam jetzt so selten in diese Gegend, dass er sich manchmal auf den neuen Straßen verirrte, auch wenn er bloß eine Meile zu fahren hatte. Das Treffen würde nicht warten.
«Dass mit mir alles gut sein wird», schloss Mamie. Sie spürte die Antiklimax, ja die Enttäuschung, und ihre Hand mit dem fleischfarbenen Hospitalarmband und dem Venenzugang machte eine gereizte kreisförmige Bewegung. «Dass, wenn es so weit ist, ich immer noch da sein werde. Hier. Versteht ihr, was ich sagen will?»
Das Besucherpaar nickte in eifriger Übereinstimmung.
«Dass ich wegmuss, dorthin», sagte Mamie, «darauf freue ich mich nicht so besonders.»
«Nein», stimmte Andrea zu und lächelte ihr breites herzhaftes Lächeln. Sie trug ein graues Wollkostüm, dessen breite Revers sie robuster aussehen ließen als sonst.
David suchte in sich nach etwas, das er sagen könnte, aber seine Zunge war betäubt von Erinnerungen an Mamie seit Kindergartenzeiten: das rundgesichtige kleine Mädchen, das von der rundgesichtigen Mutter zum asphaltierten Spielplatz gebracht wurde, als andere Mütter diesen Begleitdienst schon eingestellt hatten; die eifrige Schülerin, die immer alles wusste, ihr Wissen aber nie den anderen oder der Lehrerin aufdrängte, nie Aufmerksamkeit verlangte, aber zu leuchten begann, wenn sie ins Rampenlicht geriet; das Cheerleader-Girl, die Schriftführerin des Jahrgangskomitees, das arglose Mädchen mit Pep. Wie David war sie ein Einzelkind gewesen, eine Frucht der spärlichen Ernte der Wirtschaftskrise. Wie er hatte sie die Fähigkeit gehabt, sich mit sich selbst zu beschäftigen – zeichnend, lesend, Sammelalben anlegend. Bei ihren Schulaufführungen spielte sie immer die Rolle der lausbübischen kleinen Schwester, während David aus irgendeinem Grund immer den Vater spielte, mit Talkumpuder im Haar. Jetzt war kein Talkumpuder mehr nötig; er war früh grau geworden und dann weiß, wie seine Mutter.
Mamie sagte gerade: «Also sage ich zu mir: ‹Mamie, hör auf, dich zu beklagen. Du hast ein wunderbares Leben gehabt und drei wunderbare Kinder, und noch ist es nicht vorbei.› Dot hat mir angeboten, dass ich zu ihnen ziehe, aber das wollte ich ihr nicht antun, nicht in dem Zustand, in dem ich bin. Jake hat mir auch angeboten, ich soll zu ihm kommen, nach Arizona. Er meint, die trockene Luft wär gut für mich, aber was würde ich da tun, aus dem Fenster auf die Wüste schauen und das Fenster nie öffnen können, wegen der Klimaanlage? Das Komische ist – das wird dich amüsieren, David, du hast für Ironie immer was übriggehabt – die Reha-Einrichtung, in die ich komme, ist dieselbe, in der meine Mutter schon ist. Sie ist nicht auf meiner Station, aber ist das nicht die pure Ironie? Ich habe den größten Teil meines Lebens zwei Straßenecken von ihr entfernt gewohnt, und jetzt ziehe ich in die Etage
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