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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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Hühner köpfte, auf einem Hackklotz, der hochkant im Hühnerhof stand. Als Lee einmal auf ein jähes übermächtiges Drängen von innen durch die Hintergasse hastete und ins Bad stürzte und die Shorts nicht mehr rechtzeitig herunterziehen konnte, war sie es, die ihm das gelbe Zeug von den Beinen wischte und sagte, es sei doch nichts dabei, wegen so einer Sache müsse man doch nicht weinen. Sie war es, die ihn darauf hinwies, dass bestimmte Kinder in der Nachbarschaft – die Hallorans vor allem, der Bruder und ebenso die Schwester – nicht die richtigen Spielgefährten für ihn seien. Granny, erfuhr Lee von seiner Mutter, war nicht immer krank und schwach gewesen: sie hatte Grampops Tabakfarm bewirtschaftet, als sie noch auf dem Land lebten, und war eine der ersten Frauen in der Gemeinde gewesen, die den Führerschein machten.
    Die Familie hatte ein Auto besessen, als Lee geborenwurde, einen grünen Ford, Modell A, aber bevor Lee alt genug war, um in den Kindergarten zu gehen, war das Auto verschwunden und wurde durch kein anderes ersetzt. So arm waren sie geworden. Sie waren so arm, dass Grampop Arbeit bei der örtlichen Straßenbaukolonne annahm und Granny, um ein paar zusätzliche Dollar nach Hause zu bringen, die Häuser ihrer Verwandten putzte – sie hatte viele Verwandte; sie war das jüngste von zwölf Kindern gewesen.
    Daddy arbeitete natürlich auch. Er zog sich fast an jedem Tag in der Woche einen Anzug an und ging hinaus in die Welt jenseits der vorderen Hecke. Aber die Arbeit, die er dort machte – er addierte Zahlen für andere Leute, machte die Buchführung für eine Seidenstrumpffabrik –, brachte nicht viel ein. Die Männer, die in der Fabrikhalle arbeiteten, als Maschinisten und als Feinstrumpfwirker, verdienten mehr, merkte Lee, als er eingeschult wurde und mit den Kindern dieser Männer zusammenkam. Die Väter seiner Schulkameraden waren deftige, vergnügt raubeinige Männer mit einem zufriedenen Ausdruck um die Augen und mit Mündern, die sich rasch zu einem lustigen Foppen verzogen. Daddys Augen sahen anders aus und sein Mund auch.
    Und er hatte auch keinen Bauch, wie die Arbeiter und Farmer alle. Sogar Grampop hatte einen Bauch, auf dem er das Handgelenk der Hand, die die Zigarre hielt, abstützte, wenn er im Garten stand und rauchte. Oft waren Lee und sein Großvater die Einzigen aus der Familie, die draußen waren, wenn sich der warme Frühlingsabend auf den Garten senkte. Die Luft war dann schwer von Tau und ließ eine Woge süßen Dufts aus dem verschatteten Maiglöckchenbeet aufsteigen oder einen kleinen Schauer von Kirschblüten niedergehen. Der alte Mann hob den Kopf und lauschte auf das letzte Zwitschernder Vögel. Und das glimmende Zigarrenende schlug einen Purzelbaum, wenn er es zwischen die Päonien warf. Es kam Lee nicht in den Sinn, dass der Großvater seinetwegen dort stand – «um ein Auge auf den Kleinen zu haben».
    Er spürte aber sehr wohl, auch wenn er es nicht mit Worten hätte sagen können, dass er ein heller Funke in einem demoralisierten Haushalt war. In den Häusern gegenüber – den schmalen, mit Asphaltschindeln verkleideten Reihenhäusern, die wie hagere Engel aufgereiht standen – gab es mehr Kinder als Eltern, und das Keifen und Weinen, das durch die Mauern drang, bewies, dass dort fortwährend ein Kampf geführt wurde und die Kräfte annähernd gleich verteilt waren. In Lees Haus gab es Kampfgeräusche nur zwischen seinen Eltern; irgendein Groll bestand zwischen ihnen, der gelegentlich aufflammte. Im Übrigen empfand er die vier Erwachsenen als die Seiten eines vollkommenen Quadrats, von dessen vier Ecken jeweils eine Diagonale zu einem zentralen Punkt führte. Dieser Punkt war er, ringsum behütet, von allen Seiten geliebt.

    Doch es gab auch Ärger, Schimpfereien, kindliche Wutanfälle, Schwüre, sich umzubringen, um den anderen ein schlechtes Gewissen zu machen, die verschiedensten Arten, seinen Hütern Kummer zu bereiten. Als er einmal, auf dem Fußboden liegend, einen Comicstrip durchpausen wollte und ihm immer wieder störend die Haare über die Augen fielen, hatte er kurzerhand seine Spielzeugschere genommen und ein kleines Büschel abgeschnitten; seine Mutter hatte sich aufgeführt, als wär’s ein Finger oder die Nase gewesen. Haareschneiden war überhaupt eine gefährliche Angelegenheit. Der Chef des Friseursalons, zu dem sie immer gingen, war, zum einen, ein fanatischer Roosevelt-Hasser,und schrille politische Brüllgefechte flogen Lee um die

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