Die Tränen meines Vaters
heißen Ohren, während er sich verlegen auf dem Brett duckte, das man für ihn über die breiten Porzellanlehnen des Sessels gelegt hatte. Und zum anderen hatte seine Mutter fast immer etwas auszusetzen an dem Haarschnitt, mit dem er nach Hause kam. Von den drei Friseuren im Salon konnte nur Jake, der Roosevelt-Hasser, Lee die Haare so schneiden, dass sie zufrieden war. Als er sie darauf hinwies, dass Jakes politische Ansichten in krassem Gegensatz zu ihren stünden, sagte sie, ja, aber er sei ein Künstler.
Seine Mutter hatte einen merkwürdigen Hang zur Kunst, zu künstlerischer Betätigung. Sie machte oft mit Lee zusammen Buntstiftzeichnungen und saß dabei neben ihm auf dem Fußboden, den Oberkörper anmutig auf einen Arm gestützt, die Beine angezogen und mit dem noppigen Wollrock bedeckt, bis auf die Knie, die weiß und rund drunter hervorschauten. Sie lobte Lees kleine Zeichnungen mehr, als sie wert waren, so empfand er’s – oder richtiger, sie drang in den geheimen Winkel in seinem Innern ein, wo sie einen sehr hohen Wert besaßen.
Etwas Unmäßiges haftete seiner Mutter an, etwas, das zu heftig war, als dass man gern damit in Berührung käme. Sie hatte kupferfarbene Haare und Sommersprossen und war jähzornig. Manchmal, nach einem Streit, der den ganzen Sonntagnachmittag das Haus hatte klirren lassen, sagte der Vater mit einem kleinlauten Stolz zu Lee: «Deine Mutter. Sie ist ein echter Rotschopf.» Wenn Lee auch nur ein bisschen zu spät vom Spielen in der Nachbarschaft zum Abendbrot nach Hause kam, hatte sie vor Wut ein rotes V zwischen den Augenbrauen und seitlich am Hals. Mehr als einmal hieb sie ihm mit einer unten am Stamm des Birnbaums abgeschnittenenRute hinten gegen die Beine. Es tat nicht nur weh, es hatte auch etwas Unnatürliches, etwas von einer Zwangslektion; es ließ den Wunsch in ihm wachsen, Abstand zu wahren. Er mochte seine Mutter am liebsten, wenn sie allein im Esszimmer am Tisch unter dem Lampenschirm aus buntem Glas saß und Patiencen legte, sich auf die aufgedeckten Karten konzentrierte und zu sich selbst sprach, oder wenn sie den Rasenmäher durch den Garten schob wie ein Mann. Das Grundstück schien riesig mit seinen überhängenden duftenden Büschen (Hortensien, Spieräen, Schneeball), die gierig aufeinander eindrangen, auf den Rasen vorrückten und verschwiegene Schattennischen schufen, erdige Höhlen, in denen nicht einmal Unkraut wachsen konnte. Es machte ihm Spaß, sich in diesen Höhlen zu verstecken und sich die Shorts schmutzig zu machen.
Als er ungefähr sechs war und der Besuch der ersten Klasse ihn zum Lese- und Schreibkundigen machte und sein künstlerisches Können verfeinerte, vollbrachte er ein Meisterwerk der Comic-Art – eine Zeichnung der seitlichen Hecke, wo der Klinkerweg um die Ecke bog, das Blattwerk an einer Stelle so aufgeschlitzt, dass ein Gesicht auf einem langen Hals durchgeschoben werden konnte, vor und zurück: das sollte Betty Jean Halloran sein, die durch die Hecke linste, um zu sehen, ob er zu Hause war, bereit, mit ihr zu spielen. Sie war groß für ihr Alter und schüchtern, vielleicht weil sie spürte, dass seine Großmutter ihre Familie missbilligte, die unten an der Straße in einem Haus ohne fließend Wasser wohnte, nur mit einer Pumpe auf der hinteren Veranda. Lee war sicher, dass dies Papierkunststück seinen beiden weiblichen Hütern gefallen würde, aber seine Mutter betrachtete die Zeichnung, ließ den Kopf ein paarmal hervorkommenund gab Lee dann, ohne etwas zu sagen, das Gefühl, dass er grausam gewesen sei, denn Betty Jean war schließlich eine treue Spielkameradin, gehörte zu den wenigen Freunden, die er hatte.
Dass er ein Einzelkind war, trug bei zu dem Kummer, war mit schuld an dem murmelnden Gezänk zwischen Daddy und der Mutter. Vielleicht wäre sie besser dran gewesen, wenn sie einen der dickbäuchigen Strumpfwirker geheiratet hätte; zumindest hätte sie sich dann nicht so viele Sorgen um Geld zu machen brauchen. Aber sie hatte etwas Überempfindliches, Misstrauisches in ihrem Wesen, das sie von der Welt rings um sie her fernhielt. Daddy hielt sich nicht fern von der Welt – an Tagen, an denen er keine Buchführung machen musste, zog er los und unterrichtete an der Sonntagsschule oder sah sich ein samstägliches Softballspiel auf dem Schulsportplatz an –, aber er kam immer wieder zurück, und er mischte sich nicht ein in die künstlerische Verschwörung seiner Frau und seines Sohnes, die eine Möglichkeit war, sich
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