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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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der Welt entgegenzustemmen, ohne sie zu berühren. Wenn er sie über Kunst reden hörte, sagte er: «Das geht meilenweit über meinen Horizont», und man konnte deutlich merken, dass er das nicht im Ernst meinte, dass er’s vielmehr für unter seiner Würde hielt, denn er hatte es schließlich mit harten, eindeutigen Zahlen zu tun.
    Er wusste freilich nicht, was Lee wusste und die Mutter ahnte: dass das Zeichnen mit Buntstiften für Lee ein Ausweg war, ein Schlupfloch, durch das er von ihr, von allen seinen Hütern fortkommen konnte in ein Reich, das nur ihm gehörte, wo Liebe nicht auf ihn niederregnete, sondern von
ihm
ausging, von ihm auf die kleinen Kreaturen überfloss, die menschenählichen Tiere, die komisch gleichbleibendenComicstrip-Figuren, die er durchpauste, mit der Nase wenige Zoll vom Teppich und seinem tröstlichen muffigen Geruch nach Schuhleder entfernt.
    Wenn Grampop Besuch hatte von einem der Männer, die ebenso alt waren wie er, und sie, ins Gespräch vertieft, auf dem Sofa mit der rohrgeflochtenen Rückenlehne saßen, schurrten sie manchmal in ihrem lebhaften Vergnügen an der Unterhaltung kleine Wollflocken aus dem verblichenen Teppich. Lees Mutter beschwerte sich deswegen, aber ihr Gesicht wurde dabei nicht ganz so rot, wie wenn sie sich über den Zigarrengeruch ärgerte. Lee bekam ihre Hitze, das Nachglühen ihrer unberechenbaren Leidenschaften, am heftigsten im Klavierzimmer zu spüren, das durch einen breiten Durchgang mit reicher weißer Perlstabverzierung am Rundbogen oben und mit Säulen zu beiden Seiten mit dem Wohnzimmer verbunden war. Diese Tischlerarbeit war das Nobelste am ganzen Haus, und Lees Unvermögen, im Klavierunterricht, den er seit Jahren bekam, Fortschritte zu machen, war die schärfste Enttäuschung, die er seiner Mutter zufügte. Der Raum rings um das Klavier mit den Notenblättern und den Messingleuchtern obendrauf gehörte zu seiner Mutter; die Küche mit dem welligen Linoleum und dem schwarzen Spülstein zu Granny; das Wohnzimmer mit dem durchgesessenen Sofa und der staubigen Aussicht auf die Nachbarschaft zu Grampop, und der Windfang vorn und die Eingangstür zu Daddy, der immerfort hinausging oder hereinkam.
    Wenn Lee auf dem Teppich lag, empfand er seine Hüter in ihrem von Sorge und Ungewissheit bestimmten Verhalten als die vier Ecken der Zimmerdecke hoch über ihm. Das Schutzdach, das sie ausgespannt hatten, überdauerte die Depressionszeit und den Weltkrieg, und auch seine Adoleszenzund sein ständiges Herauswachsen aus seinen Kleidern änderten nichts an der Konfiguration, obschon Grampop am Grauen Star operiert werden musste und fortan den Kopf sehr still hielt, während Lee ihm die Schlagzeilen vorlas, und Granny sich vornüberkrümmte und ihre Hände immer stärker zitterten und die Parkinson’sche Krankheit sie nach und nach der Sprache beraubte und sein Vater grau wurde und sich einen neuen Buchhalterjob suchen musste, als die Strumpfwirkereien nach dem Krieg in den Süden verlagert wurden, und seine Mutter sich etliche Pfunde zulegte und die Büsche im Garten immer höher wuchsen und verwilderten und Betty Jean Halloran sich zu einer Schönheit mit gepfeffertem Ruf entwickelte und längst aufgehört hatte, durch die Hecke zu spähen.

    Lee hatte immer Angst davor gehabt, einer seiner Hüter könnte sterben, sich davonmachen ins unvorstellbare Nichts, und eine Ecke des Schutzdachs seiner Kindheit wegreißen. Als wüssten sie das, richteten sie es so ein, dass sie am Leben blieben, bis er sicher auf dem College war, seinen Abschluss machte und es mit ihm weiterging. Sie beschützten ihn bis zuletzt vor allem, das zu unangenehm war oder ihn erschrecken könnte. Sie starben in taktvoll bemessenen Abständen, in der Reihenfolge, in der sie geboren waren. Grampop war über neunzig und gesund und auf den Beinen bis zum vorletzten Tag seines Lebens; er fühlte sich nicht ganz wohl und ging zu Bett, und am nächsten Tag glaubte er, das Bett stehe in Flammen, und beim Versuch, ihnen zu entfliehen, stürzte er tot zu Boden. Lee war auf dem College, als er davon erfuhr. Granny hielt noch ein Jahr im Bett liegend durch, unfähig, zu sprechen oder sich ohne Hilfe aufzurichten, und einesMorgens stellte ihre Tochter fest, dass sie für immer eingeschlafen war, die scharfe Nase und die tiefen Augenhöhlen zu jugendlich knochiger Schönheit geglättet. Lee war zu der Zeit in Iowa City und studierte Bildende Kunst. Daddy pendelte einige Jahre mit Angina Pectoris und

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