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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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Herzinfarkten zwischen Spitälern und seinem Bett zu Hause hin und her, und sein junger Arzt vertraute der Witwe an, sie hätten am Ende «ordentlich was mit ihm durchgemacht». Lee lebte inzwischen in San Francisco, ging der Kunst und der Suche nach seiner Identität als Künstler nach und war erleichtert, dass er es nicht rechtzeitig ans Krankenbett schaffte und den Kampf seines Vaters nicht mit ansehen musste. Seine Mutter fiel eines Tages, wie ihr Vater, tot zu Boden – in der Küche, der Abwasch war gerade erledigt, das Geschirr stand im Abtropfgestell. Sie war aus dem alten Haus fortgezogen in ein neueres, kleineres, in dem alle Räume zu ebener Erde lagen; ihre roten Haare waren am Ende schneeweiß, und sie war mild und schrullig und gutmütig geworden in ihrer Einsamkeit und machte es Lee nie zum Vorwurf, dass er sie so selten besuchte. Die Putzfrau, die einmal in der Woche kam, sah den Leichnam durchs Fenster der Hintertür auf dem Boden liegen, und die Polizei, der Bestattungsunternehmer und der Pfarrer taten das Ihre, während Lee aus Taos einflog, wohin er gezogen war, als es in San Francisco nicht klappte.
    Jetzt waren alle fort. Von der Familie, die in jenem Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts gebauten Haus gelebt hatte, war nur Lee noch da. Der Kohlenverschlag im Keller, die Borde mit Eingemachtem, der Eisschrank aus Nussbaum, der schwarze Spülstein, das blasenwerfende Küchenlinoleum mit dem Muster aus kleinen ineinandergreifenden Ziegeln, der Lampenschirm aus buntem Glas im Esszimmer, der Geländerpfostenin der Diele mit den umlaufenden Rippen, die wie die Ringe des Saturn waren oder wie die Streifen von Plastic Man, die schmale Hintertreppe, die niemand benutzte und die zum Abstellraum wurde für Pappkartons und Elektrogeräte, die irgendwann repariert werden sollten, der fensterlose kleine Treppenabsatz, wo sie sich in pechschwarzer Nacht aneinandergekuschelt hatten, wenn Luftschutzübungen abgehalten wurden, die lange Seitenveranda, wo Landstreicher angeklopft und um Almosen gebeten hatten, die gescheckte Katze mit dem Stiefmütterchengesicht, die auf die Veranda kam und gefüttert werden wollte, aber zu scheu war, um sich ins Haus hineinzutrauen, die weißen Korbmöbel im Garten, wo Grampop im Abenddämmer mit seiner Zigarre saß und zusah, wie die Glühwürmchen sich versammelten – außer Lee gab es niemanden mehr, der sich an all das erinnerte.
    Zu seinem Ich-Bewusstsein gehörte es, dass er, indes die Jahre sich über sein Kindergehirn hermachten, gelegentliche Anstrengungen unternahm, seine Situation so zu erfassen, wie sie als wissenschaftlich erwiesen galt. Er blickte zum Halbmond hinauf und versuchte, ihn nicht als Göttin Diana zu sehen oder als ein Abziehbild aus einem Comic-Buch, sondern als eine im leeren Raum hängende Kugel, deren erleuchtete Hälfte unfehlbar anzeigte, wo auf der anderen Seite der gewaltigen runden Masse der Erde jetzt die Sonne schien. Er versuchte, sich begreiflich zu machen, dass die Oberfläche unter seinen Füßen gekrümmt war und rückwärts raste, dem Sonnenaufgang entgegen. Und noch größere Anstrengung kostete es ihn, sich leeren Raum in seinen tatsächlichen ungeheuren Ausmaßen vorzustellen, jeder Stern Lichtjahre entfernt vom nächsten, und das interstellare, fast absolute Vakuum voller virtueller Teilchen, die irgendwieeine der Schwerkraft entgegengesetzte Energie erzeugten, sodass die Sterne und die Galaxien immer schneller auseinandertrieben, bis das Universum für sich selbst unsichtbar würde, kalt und dunkel bis in alle Ewigkeit, amen. Er versuchte, sich ein Bild von organischem Leben zu machen, wie Darwin und seine Anhänger es beschrieben: nicht als eine Leiter des Seins, die zu immer komplexeren und geistigeren Formen hinaufführte, sondern als einen flachen Sumpf, eine diffuse Suppe blinder Gene, die allein deshalb, weil sie existierten, in welch niedriger, grotesker, mörderischer, parasitischer Kreatur auch immer, dazu neigten, ebendiese Kreaturen fortbestehen zu lassen, ohne den leisesten Hauch einer Absicht, eines höheren Zwecks. Reine Lotterie, hatte Daddy gesagt. Was war, das war und neigte dazu, so zu bleiben, wie es war. Generation auf Generation.
    Das hatte etwas Tröstliches, fand Lee. Seine Hüter waren immer noch bei ihm. Sie waren in ihm und gewährten ihm immer noch ihren Schutz und ihre Fürsorge. Von Grampop, der eine wunderliche, zögernde Art gehabt hatte, die dünnhäutige Hand zu heben, als wolle er einen Segen

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