Die Tränen meines Vaters
Nachmittag bei uns vorbei, und als sie ging, sagte sie zu mir: ‹Ich hoffe, dieses Kind bekommt irgendwann in seinem Leben ein bisschen Liebe.›»
Benjamin lachte ungläubig. «Wie kann man so etwas sagen! Und doch habt ihr beide, du und Daddy, es all die Jahre mit ihr ausgehalten.»
«Die Leute haben früher miteinander ausgeharrt», sagte seine Mutter, «aus Angst, dass das alles war, was es gab. Jetzt trennen sie sich und tun sich mit jemand anderm zusammen, der genau so ist wie der Vorige.»
Diese Spitze galt ihm; Benjamin hatte sich zweimal scheidenlassen und sich wieder verheiratet, aber er ging nicht weiter darauf ein. Er empfand seine Mutter als die Austeilerin von mehr Wahrheit, als er ertragen konnte. Als er sieben oder acht und dem gemeinsamen Bad entwachsen war, fragte er sie – denn sie hatte ihn aufgefordert, seine Neugier hinsichtlich der Tatsachen des Lebens zu befriedigen –, ob bei einer Frau das Pipi an derselben Stelle herauskomme wie die Babys. Freundlich, freimütig, ganz ihrem progressiven Geist entsprechend, antwortete sie ihm, aber seine Verlegenheit war so groß, dass sie die Antwort auslöschte und seine Frage ihm als beständige Demütigung im Gedächtnis haftenblieb.
Als sie starb, stieg aus dem, was übrig blieb, ein langes Leben auf. In einer kleinen Zedernholztruhe, deren Schlüssel in ihrer Schreibtischschublade lag, fand er, umwickelt mit einem Schleifenband, das von Rot zu Rosa verblichen war, ein Bündel Briefe, die sein Vater ihr in den zwei Jahren zwischen dem College-Abschluss und ihrer Hochzeit geschrieben hatte. Sie waren innig, steif, ernst. Einzelne Sätze stiegen zu ihm auf von dem dünnen zerknitterten Papier, das nicht nur nach Zedernholz roch, sondern, wie Benjamin sich einbildete, nach der Salzluft von Florida, wo sein Vater achtzehn Monate verbracht hatte: …
möchte es jedem, der betroffen ist, recht machen … sicher, dass Du die Gefährtin bist
,
die der liebe Gott für mich bestimmt hat … Ma geht es bald besser, bald schlechter, und sie ist tapfer wie nur irgendwer … Ed sagt, das Geschäftsklima hier wird sich wieder zum Bessern wenden, die Leute ziehen nach einem Hurrikan immer die Fühler ein … Du fehlst mir jeden Tag und vor allem nach der Arbeit … wenn, was Gott verhüte, ihr Zustand sich verschlechtert … bei Dir sein
auf dem alten Sofa mit dem Rohrgeflecht in Olinger und nur so dasitzen und mit Dir zusammen lachen … kurz davor, alles hinzuwerfen und den nächsten Güterzug nach Norden zu nehmen, aber … die Ärzte sagen, sie hat die Zielstrebigkeit einer Heiligen oder eines Maultiers … kann Deine Stimme hören, so deutlich wie nur was … die Sonnenuntergänge brechen so schnell herein, wegen des Breitengrads … ich bin immer noch Dein Scheich, und Du bist meine Agnes Ayres … achtunddreißig Grad im Schatten drüben bei Arcadia … oder sterben beim Versuch
… Benjamin ertrug es nicht, fortlaufend zu lesen, es war wie die allzu detaillierte Antwort der Mutter auf seine kindliche Frage; er scheute innerlich zurück. Die Handschrift seines Vaters hatte schon damals, bevor er seinen Magister machte und eine Anstellung als Lehrer bekam, die disziplinierte Leserlichkeit eines Schulmeisters; er formte jeden Buchstaben mit Sorgfalt und hob die Feder in der Mitte eines Wortes an. Als seine Mutter schließlich starb, war er schon nach Norden zurückgekehrt. Der Lachs, stromaufwärts steigend:
oder sterben beim Versuch.
Eine erhaben gemusterte Pralinéschachtel, geformt wie ein Herz, enthielt den Beweis, dass seine Mutter sich zumindest ein Mal die Haare geschnitten hatte.
Verna Rahns abgeschnittene Haare
, hatte sie in ihrer kleinen, schräg nach hinten kippenden Schrift geschrieben,
18. Juni 1926. (Mot
ten haben ein paar gefressen!) Dies war also die zweite Verpackung der Haare; mit schwarzem Band umwickelt, waren sie so lang, dass Benjamin es nicht wagte, sie aus der Schachtel zu nehmen, die immer noch schwach nach Schokolade roch. Er ließ die Haare, dick aufgerollt, in ihrem Nest aus Seidenpapier liegen. Sie waren von einem unschuldigen blassen Braun, ohne Grau darin – ein lichtes Braun, wie das in Jeannies Song. Ein
ländlicher
Farbton, dachte er.Versuchsweise berührte er die Haare, zog die Hand aber rasch zurück, als hätte er sich angemaßt, etwas Lebendiges zu streicheln.
Und er fand, zusammengefaltet, ganz unten, unter gehäkelten Decken und Spitzentischtüchern und einem Agricola-Wimpel aus lila- und goldfarbenem Filz,
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