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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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etwas, das er seiner Mutter nie hätte geben können, sein Vater aber wohl: einen Universitäts-Footballsweater, grob gestrickt aus weißer, jetzt vergilbter Wolle, die Brustpartie versteift von dem großen Buchstaben, die Ärmel hochgesteckt mit übergroßen Sicherheitsnadeln, die noch da waren und mit ihrem Rost das dicke Garn verfärbt hatten. Eine dritte Nadel hielt die Rückenpartie zusammen. Dieser Sweater und die Nadeln, mit denen er für ihren schlanken Körper passend gemacht worden war, strahlten Wärme aus und zugleich die Kühle vergangener Winter – milde feuchte Pennsylvania-Winter, junge Paare, die in nicht zugeschnallten Galoschen über den Campus schlenderten und mit ihrem Lachen kleine weiße Wolken entstehen ließen.
    Sein Vater war mit einem Football-Stipendium aufs College gekommen, obwohl er immer behauptete, dass er für Football zu groß und zu mager sei. Er hatte durchgehalten und sich mehrere Male die Nase gebrochen, was zu einem charakteristischen Merkmal seines zerbeulten, melancholischen Gesichts wurde. Photographien, die es von ihm noch gab, zeigten ihn absichtlich niedergeduckt mit dem ungepolsterten Lederhelm von damals. Unter dem zusammengefalteten Sweater lag ein Spielplan, der die Aufstellung des Agricola-Teams einschloss; es war, unglaublich, gegen Cornell und Columbia und Rutgers angetreten. Das kleine College war besiegt worden, Kanonenfutter. Sein Vater hatteseiner Mutter sein Letztes gegeben. Er hatte sie in seinen Schmerz gekleidet, und ihr Sohn war hinter ihnen hergelaufen, unsicher, was so komisch war, aber glücklich, eifersüchtig zu sein.

Spielarten religiöser Erfahrung
    Es gibt keinen Gott:
die Erkenntnis kam Dan Kellogg in dem Augenblick, als er den Südturm des World Trade Center einstürzen sah. Er lebte in Cincinnati, war aber zufällig in New York, um seine Tochter in Brooklyn Heights zu besuchen; ihr Apartment hatte eine Penthouse-Aussicht auf Lower Manhattan, das weniger als eine Meile entfernt war. Auf ihrer Terrasse stehend, rätselte er noch über die ungeheuren Mengen öligen Rauchs, der aus den Zwillingstürmen quoll, und über die Myriaden Fetzen von, wie es schien, weißer Pappe, die in der dunklen Rauchsäule flatterten, und wer die Täter gewesen sein könnten und welchen Zweck sie verfolgten, als, so abrupt, wie ein Mädchen sein seidenes Kleid heruntergleiten lässt, der Wolkenkratzer seine Außenhaut abstreifte und mit einem silbrigen, sich kräuselnden Geräusch verschwand. Der Erdboden unten, den Dan nicht sehen konnte, stöhnte und erbrach eine Wolke aus Asche und pulverisierter Materie, die, aus seiner entfernten Perspektive gesehen, sich langsam pilzförmig nach oben ausbreitete. Die Sirenen, die die Luft auf der anderen Seite des Flusses mit ihrem Heulen füllten, heulten weiter, ohne einen Wechsel ihrer Tonhöhe; die Masse umstehender Gebäude, Stein undGlas, behielt ihre Pose ausdrucksloser stummer Zeugenschaft bei. Hatte Dan geglaubt, er höre einen lauten Choral, einen Protestschrei, der sich gegen das Schweigen des Himmels erhob – ein opernhaftes menschliches Geräusch auf dem Grund eines Phänomens, das so unmenschlich erbarmungslos war? Oder hatte er das Stöhnen der Erschütterung nur vermenschlicht? Ihm war bewusst, dass er ein für ihn neues Ausmaß von Dingen vor sich sah – das des Blitzkriegs oder ausbrechender Vulkane. Auf den Einsturz folgte eine durchdringende Stille; zumindest hörte er mehrere Sekunden lang nichts.
    Zehn Stockwerke unter seinen Füßen, zu weit unten, um zu sehen, was er sah, lungerten zwei schwarze Tiefgaragenwärter vor der Einfahrt herum – der eine stand, der andere saß auf einem Aluminiumstuhl – und machten Witze, eine Unterhaltung, die trotz der Geräusche, die zu Dan aufstiegen, unter einem Dach aus dickem Glas oder in einem Stummfilm hätte stattfinden können. Die beiden Männer trugen kurzärmelige Hemden, aber der Sommerschleier war an diesem Septembermorgen vom Himmel gebrannt worden, um Platz zu machen für die nächste Jahreszeit. Die einzige Wolke war von Menschen gemacht – der widerlich gefärbte, an den Rändern gelbe Rauch, der geballt und sich fortwährend neu verdichtend Richtung Osten zog. Dan konnte nicht glauben, dass der Turm wirklich verschwunden war. Wie konnte etwas so Riesiges und Kompliziertes, ein ausgeklügelt konstruiertes Hochhaus, in dem es von Menschen wimmelte, hauptsächlich jungen, durch sein eigenes Gewicht so rasch, so beiläufig zerstört werden? Die Gesetze

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