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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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fühlte, sie zu küssen, was sie auch zu erwarten schien. Ihr blasses Gesicht hatte regelmäßige Züge, ihre Lippen aber waren hart und kühl, hatten die Kühle beflissenen Vorbereitetseins, die er seinem Gefühl nach nicht verdient hatte. Er war sich linkisch, übertrieben fein angezogen und nicht ganz wie er selbst vorgekommen und nahm an, dass ihre Meinung von ihm mit seiner übereinstimmte. Er rief sie nie wieder an, obgleich sie eigentlich hübsch genug war. Was immer es war, das entdeckt werden musste, der Weg führte nicht durch die College-Zeit seiner Eltern.
    Seine Mutter hatte sich in all den Jahren, die er sie kannte, nie die Haare schneiden lassen, sich nie in einen Friseursalon gesetzt. Ihre Haare waren grau, so lange er zurückdenken konnte; sie schlang sie hinten zu einem Knoten und hielt ihn mit Haarnadeln zusammen, die er oft auf dem Fußboden fand, als er noch kindlich nah am Teppich lebte. Als sie ein Mädchen war, erzählte sie ihm mehr als einmal (sie erzählte ihm alles mehr als einmal), hatte ihre Mutter ihr die Haare zu Zöpfen geflochten und die so fest an ihrem Kopffestgesteckt, dass sie am liebsten geschrien hätte. Es erschreckte Benjamin, abends, wenn er sah, wie sie die Nadeln herauszog und die Haare herunterließ und im Haus oben im Unterrock umherging und wie eine ergraute Hexe aussah, nur ihre Nase und ihre Augen schauten aus dem Haarvorhang heraus. Jahre später, Ende der Sechziger, gabelte er eine pummelige junge Nutte in der Bar eines Hotels in Chicago auf. Als sie fertig waren, zog sie ihr silbriges Minikleid wieder an, ging im Zimmer umher und kämmte sich die Haare, lang und durch nichts gehalten, im Stil der sechziger Jahre, und ihm kam der Gedanke, dass eine Frau so aussehen sollte, wie Eva oder Maria Magdalena in einem mahnenden alten Holzschnitt.
    Etwas Mahnendes fand sich auch in der Wäscheschublade der Kommode seiner Mutter, ein Durcheinander von fleischfarbenen Strumpfhaltern und komplizierten Metallbefestigungen wie ein Netz von Vorrichtungen in einer Folterkammer. Ihr Hüftgürtel und die daran hängenden Strumpfbänder mit den fleischfarbenen Knöpfen und wie Schneemänner geformten Metallschlingen hinterließen grausame Dellen in ihrem Fleisch, und an einem ihrer Füße krümmte sich der kleine Zeh über die anderen vom jahrelangen Tragen enger, spitzer Schuhe.
    Nachts oben im Farmhaus schilderte der Vater die Abenteuer seines Tages in der Stadtwelt und nuschelte dabei, und sie begann zu lachen, und er nuschelte wieder, und ihr Lachen wurde angestachelt zu einem halb unterdrückten Kreischen, einem Hervorschießen wie von Dampf, und endete in einem um Gnade bettelnden Winseln, dann nuschelte er noch einmal, und angesteckt von ihrer neuerlichen Heiterkeit lachte auch er, ein paar unwillige Gluckser, und die Geschichtewar zu Ende. Am Morgen, als Benjamin seine Mutter fragte, was so komisch gewesen sei, sagte sie: «Es ist schwer zu erklären. Es ist nicht so sehr, was dein Daddy sagt, sondern wie er es sagt, das bringt mich manchmal so zum Lachen, dass ich nicht wieder aufhören kann. Ich glaube, er hat ursprünglich gar nicht die Absicht, komisch zu sein; sein Leben ist wirklich traurig gewesen.»
    Aber seine Eltern verbreiteten keine Traurigkeit, obgleich ihr Elend und ihre Hilflosigkeit – die Falle, in der sie saßen – ein häufiges Thema ihrer Gespräche war. Als Benjamins Großeltern beide gestorben waren, wurde ein neues Bett in dem leergewordenen Zimmer aufgestellt, aber soweit Benjamin wusste, benutzten seine Eltern es kaum, sie blieben in dem zu hohen Vierpfostenbett mit den geräuschvollen Sprungfedern und dem Mond und den Sternen auf dem graublauen Kopfbrett. Wenn er im Sommer mit seiner wachsenden Familie zu Besuch kam, reichten die Betten nicht mehr aus, und seine Eltern schliefen dann auf einem flachen Farmwagen in der Scheune. Sie boten dort einen so komischen Anblick, hoch erhoben auf Rädern mit riesigen Speichen, umgeben von Bergen aus Heuballen und verrostetem Farmgerät, zugedeckt mit buntscheckigen Wollplaids und Quilts, dass seine Kinder als Erstes am Morgen hinausrannten über den taufeuchten Rasen, um die Großeltern noch so liegen zu sehen und sich an dem erheiternden, tröstlichen Bild zu erfreuen. Das alte Paar setzte sich dann zum Gruß auf, beide trugen schwarze Wollmützen, um es warm zu haben und keinen Staub und keinen Vogelmist in die Haare zu bekommen. Tauben gurrten und raschelten im Gebälk der Scheune über dem schlafenden

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