Die Tränen meines Vaters
dem schattigen Zimmer waren sie wie drei Verschwörer. Lucille wiegte sich sanft auf dem Sofa hin und her und machte von Zeit zu Zeit ein gurrendes Geräusch. «Wenn man an alle die denkt, die noch da drin sind, all die Menschen», sagte sie in einem Singsang, wie zu sich selbst. «Ich habe Vicky erzählt, dass es auf Anguilla, als ich noch ein Mädchen war, keinen Strom gegeben hat und Telephone nur für die Polizisten, die Fahrrad gefahren sind, wenn sie irgendwohin mussten auf der Insel. Das einzige Verbrechen war, wenn Arbeiter drei Monate weg waren und wiederkamen und sich an ihren Frauen gerächt haben für irgendwas, das die angestellt hatten. Das höchste Gebäude hat ein Stockwerk, und wenn kein Mond ist, sind die Menschen sicher in ihren Hütten.» Dann, weniger verträumt, mit einer Stimme, die das zuhörende Kind beruhigen sollte, sagte sie zu Dan: «VickysMomma, sie hat vor fünf Minuten angerufen, für heute ist die Arbeit vorbei, sie kommt nach Hause, weiß aber nicht, wie, die Züge fahren alle nicht. Vielleicht muss sie den ganzen Weg vom Rockefeller Center zu Fuß gehn.»
Dan hatte vorgehabt, ehe er nachher nach Cincinnati zurückfuhr, die Subway zum Whitney Museum zu nehmen und in die Wayne-Thibaud-Ausstellung zu gehen, die nur noch wenige Tage zu sehen war. Dan mochte den Disney-Anflug in den Bonbonfarben des Künstlers und seinen munteren, herzhaften Zeichenstil. Jäh war der Besuch dieser Ausstellung unmöglich – Teil einer idyllischen, weniger versperrten Vergangenheit.
«Dann warten wir jetzt alle auf Mommy», verkündete er und versuchte, bis Emily eintraf, der Anführer dieses schutzlosen, isolierten Trios zu sein. «Ich weiß was!», rief er. «Wir machen Doughboy-Cookies für Mommy, bis sie nach Haus kommt. Sie hat bestimmt Hunger!» Er beugte sich vor und pikte Vicky ins Bäuchlein, als ob sie der Doughboy in den Fernsehwerbespots sei.
Aber sie lachte nicht, lächelte nicht einmal. Ihre Augen unter den Ponys und den ernsten geraden Brauen glänzten fiebrig. Sie brannte darauf zu erfahren, was sich an Neuem und Verbotenem auf der anderen Seite des Rouleaus zutrug. Und Lucille ging es genauso, aber sie versagte es sich, den Fernseher einzuschalten, und Dan versagte es sich, noch einmal auf die Terrasse zu gehen und seine verzweifelte kosmische Erkenntnis zu überprüfen.
Emily war eine Stunde später zu Hause, sicher und erschüttert und verschwitzt von der ungewohnten Anstrengung, zu Fuß die East Side hinunter- und zusammen mitvielen anderen, die von der Insel flohen, über die Manhattan Bridge zu gehen. Dans Tochter war mit siebenunddreißig Jahren schlank, muskulös und professionell, eine straffe Soldatin, weit entfernt von ihrer passiven, fleischigen Mutter. Sie schaltete in der Küche sofort den kleinen Fernseher an und war nicht begeistert vom Geruch nach frischgebackenen Cookies. «Wir bemühen uns, Victoria dazu zu erziehen, dass sie sich von Süßigkeiten fernhält», sagte sie zu ihrem Vater, und als er erklärte, dass er und Lucille versucht hätten, sie abzulenken, sagte sie: «Lass sie ruhig ein bisschen zusehn. Das hier ist Geschichte. Es ist gewaltig. Davor kann man sich nicht verstecken.»
In den Heights, erzählte sie ihnen, sei der Autoverkehr zum Erliegen gekommen, und Männer mit Aktentaschen, die dunklen Anzüge mit Asche bedeckt, staksten mitten auf dem Fahrdamm der Henry Street. Sie versteckte die Cookies auf einem hohen, nicht erreichbaren Regal; sie schickte Lucille los, Victorias ältere Schwester Hilary von der Tagesschule abzuholen; sie gab ihrem Vater eine Einkaufsliste für den Supermarkt, während sie zur Bank ging, um viel Bargeld abzuheben, für den Fall, dass die Gesellschaft total zusammenbräche. Vicky ging mit ihr.
An der Montague Street herrschte früher Lunch-Betrieb. Stimmen klangen über die draußen gedeckten Tische wie sonst auch, freilich ein wenig befangen, als ob unsichtbare Fernsehkameras surrten. Die Straßenszene wirkte gestellt; sogar die Jungen, die draußen vor dem Supermarkt lungerten, schienen sich einer neuen Beachtung bewusst – der Bedeutung, Überlebende zu sein in der verdunkelten Luft. Die Luft hatte einen beißenden Geruch und ließ wirbelnde Ascheteilchen schneien. Sensorische Eindrücke trafen Danhärter als sonst, weil Gott aus seinem Gehirn gewischt war. In seinem früheren Leben war ihm nüchterner Atheismus nicht differenziert genug gewesen, noch schien er sich dem Universum gegenüber als besonders freundlich
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