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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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Abend nicht zum ersten Mal beleidigt hatte.
    Er sah nicht ein, warum er sich mit dem Zahlen beeilen sollte. Zaeed war noch auf der Toilette, und die Sandwiches, die sie bestellt hatten, standen noch auf dem Tisch, unangerührt. Das war’s: sie hatte vor einiger Zeit – vor einer Stunde? vor zehn Minuten? – angeboten, den Tisch abzuräumen, und er hatte gesagt, er sei noch nicht fertig, obwohl es ihn in Wahrheit vor dem Essen ekelte. Es war, wie alles in diesem teuflischen Land, übermäßig und verschwenderisch – ein offenes warmes Roastbeefsandwich, nicht rosa, sondern grau, jetzt kalt und schlaff auf der Brotscheibe, totes Fleisch, unter seinen Händen liegend, so tief unter ihnen wie unter den Flügeln eines Flugzeugs. Das widerliche Sandwich war serviert worden mit Pommes frites und Krautsalat, Müll, keinem Straßenköter zuzumuten. Aber er überlegte, ob er sich nicht doch an den Fraß machen sollte, um das Brennen des Whiskeys zu ersticken und währenddessen mit Zaeed zu sprechen, dem Jüngeren zu einer härteren Schale zu verhelfen für das große Vorhaben, das wie eine Präzisionszeichnung in einer deutschen Ingenieursklasse ausgebreitet worden war. Mohamed hatte Ingenieurwesen studiert unter denUngläubigen, hatte sich die Mathematik einverleibt, die sie den Arabern vor Jahrhunderten gestohlen hatten.
    Er musste essen. Der Tag, der schicksalhafte Morgen des Höhepunkts, war nah, und er musste stark sein, seine Hände und Nerven ruhig, sein Wille unbeugsam, sein Körper kraftvoll und rein, von allem Haar befreit. Die Größe der Tat, die er in sich barg, presste sich hinauf wie eine Art Übelkeit, quälte seine Kehle mit einem Verlangen, laut zu schreien – zu künden, wie sein prophetischer Namensvetter, der Verkünder, es getan, von der Herrlichkeit Gottes, jenseits aller auf Erden vorstellbaren Tugenden, von Seiner Herrlichkeit und Seiner feurigen Gerechtigkeit.
Für die Ungläubigen haben wir Fesseln und Ketten bereitet und ein loderndes Feuer. Mit Flammen aus Feuer werdet ihr gepeitscht und mit geschmolzenem Messing.
    Die blonde Hure schnippte das glitzernde Band weg, watschelte in der Hocke, mit gespreizten Beinen, um die Stange und ließ ihre rasierte Spalte sehen – eine peinliche, hässliche Darbietung, die ihr von den gelangweilten Männern an den Tischen im Dunkeln einzelne Bravos eintrug. Zaeed kehrte zurück, blasser als vorher. Ihm sei übel gewesen, gestand er. Mohamed empfand auf einmal große Liebe für diesen Mitverschwörer, den jüngeren Bruder, den er nie gehabt hatte. Mohamed war in einem blumenreichen Vorort von Kairo aufgewachsen, zusammen mit zwei Schwestern; um sie davor zu bewahren, als Nutten zu enden, hatte er sich dem heiligen Dschihad geweiht. Sie waren zu leichtfertig, um zu wissen, dass die Betörungen, die ihnen aus dem Fernsehen und dem Radio entgegenzwitscherten, von Satan kamen und den Zweck hatten, sie ins ewige Feuer zu locken. Ihre Eltern in ihren europäischen Kleidern, ihr drittklassiger Wohlstandnach imitierten westlichen Gütern bemessen, waren blind gegenüber dem Bösen, das sie über ihre Kinder brachten. Ihrer Bequemlichkeit frönend in dem mit schweren Vorhängen ausgestatteten und von Dienstboten geführten Haus in Giseh, waren sie wie augenlose Höhlenkreaturen, blind gegenüber der Größe des Einen, Der in Seinem Zorn diese Welt und ihre Nichtigkeiten in eine Wüste verwandeln wird. Mohamed trug diese sublime Wüste, ihr Nachthimmel ein betäubender Tumult von Sternen, in seinem Innern.
Wenn der Himmel entzweigerissen ist; wenn die Sterne zerstreut sind und die Meere ineinanderfließen; wenn die Gräber zu Ruinen zerfallen, wird jede Seele wissen, was sie getan und was sie versäumt hat zu tun.
    Die Kellnerin war wiedergekommen, begleitet von einem Mann, einem Mietling, dem glatzköpfigen Barkeeper in einem gelben T-Shirt , das in dreidimensionalen eiligen Buchstaben etwas anpries, ein Bier oder vielleicht ein Sportteam. Mohamed konnte es nicht deutlich erkennen. Zaeed war beunruhigt; er dünstete den süßlichen Schweiß der Angst aus, und seine Bewegungen verrieten ein Verlangen, diesen unheiligen Ort zu verlassen. Mohamed dämpfte die Besorgnis des Jungen, indem er ihn am Arm fasste, und stand auf, um dem Mietling im gelben T-Shirt entgegenzutreten. So rasch aufzustehen machte ihn schwindlig, schwächte aber nicht seinen Verstand und trübte auch nicht die Wachsamkeit, mit der er jede Bewegung ringsum wahrnahm. Ein frisches Mädchen auf der

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