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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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finden es heraus. Die haben Männern ein Vermögen dafür gezahlt, dass sie herumsitzen und sich überlegen, wie man mit Eventualfällen fertig wird. Trotzdem, ich muss sagen –»
    «Was, Jimmy, was musst du sagen?»
    «Ich wollte sagen, das Atmen hier drinnen wird langsam schwer. Jemand hat gerade ein Fenster zerschmettert. Die schmeißen einfach Stühle durch die Fenster. Hey, Marcy?»
    «Ja?
Ja? »
    «Ich weiß nicht, aber ich glaube, es ist nicht so gut.»
    «Der Rauch kommt aus einem Stockwerk irgendwo unter deinem», sagte sie voller Hoffnung, mit zitternder Stimme. «Ich kann nicht zählen, wie viele unter deinem.»
    «Lass es. Nicht zählen.» Ihre Stimme war eine Verbindung zur Welt, aber sie umschlang ihn, hielt ihn zurück. «Hör zu. Falls ich es nicht schaffe. Ich liebe dich.»
    «O mein Gott! Sag das nicht! Sei wie immer!»
    «Ich kann nicht wie immer sein. Das hier ist nicht wie immer.»
    «Kannst du nicht zu einem höheren Stockwerk rauf und auf dem Dach warten?»
    «Ich glaube, einige versuchen das. Könntest du den Kindern sagen, wie sehr ich sie liebe?»
    «Ja-a.» Atemlos. Sie widersprach nicht, das sah ihr nicht ähnlich; dass sie auf diese Weise aufgab, erschreckte ihn. Es machte ihm klar, wie ernst es war, wie unvorstellbar ernst.
    Er versuchte, praktisch zu denken. «Alles, was du brauchst, müsste im Aktenschrank neben meinem Schreibtisch sein. In der mittleren Schublade. Lenny Palotta kann dir helfen, er hat die Unterlagen von der Investmentgesellschaft und die Versicherungspolicen.»
    «O Gott, nicht so, Liebster. Denk nicht so. Versuch einfach rauszukommen, geht das nicht?»
    «Doch, wahrscheinlich.» Alle bewegten sich zu den Fenstern hin, dort war es am kühlsten, dort konnte man atmen, hoch oben, in der Höhe eines Flugzeugs, wenn es die Räder einfährt und es die kleine Erschütterung, das Klacken gibt, das unerfahrene Passagiere beunruhigt. «Aber, nur für den Fall – du tust, was du für richtig hältst.»
    «Was meinst du damit, Jim, ich soll tun, was ich für richtig halte? Das ergibt keinen Sinn.»
    «Verdammt, Marcy. Ich meine damit, versteh’s doch, du sollst dein Leben leben. Du sollst tun, was dir für dich und die Kinder am besten erscheint. Lass dir durch nichts die Flügel stutzen. Sag Annie, falls ich heut Abend verhindert bin, dass ich sehr gern gekommen wäre.» Vor allem dies brachte ihn den Tränen nah, das Bild seiner pummeligen kleinen feierlichen Tochter in Fußballshorts, verängstigt und mit rosa angelaufenem Gesicht. Der Rauch blendete ihn, griff seine Augen an.
    «Meine Flügel stutzen?»
    «Himmel, Marcy, du hast meinen Segen. Ich gebe dir meinenSegen für was immer du tun willst. Es ist alles in Ordnung. Du bist frei.»
    «O Jim, nein.
Nein!
Wie kann das bloß
passieren

    Er konnte nicht mehr sprechen; der Rauch, die Hitze, der Kerosingestank trieben ihn zu den Fenstern, blauen Paneelen, in denen Silhouetten nach oben kletterten, um ein bisschen Luft zu bekommen. Cy Walsh war schon da drüben, mit den anderen. Jim befestigte das Telephon mit raschem Griff an seinem Gürtel; instinktiv griff er nach seinem Jackett und sprang gebückt über den heißen Fußboden zu seinen Kollegen, die sich an den Fenstern drängten. Sie waren seine Familie, sie waren seit Jahren seine Neun-bis-fünf-Uhr-Familie gewesen. Sie waren Problemlöser und würden ihm zeigen, was zu tun war. Wie ein Flugzeug, das Höhe gewinnt mit seinen Flügeln, überwand er die Schwerkraft. Verbindungen rissen ab, Verpflichtungen fielen fort. Er fühlte sich in diesen Sekunden so leicht wie ein Neugeborenes.

    Der nette junge Mann neben ihr erzählte ihr, dass er Verkaufsleiter sei, unterwegs zu einer Telecom-Tagung in San Francisco, aber an den Wochenenden spiele er Rugby im Van Cortland Park, in der Bronx. Es überraschte Carolyn, dass es in den Vereinigten Staaten Rugbyspiele gab. Vor Ewigkeiten in ihrem langen Leben, nach dem Krieg, hatte sie ein Jahr in England verbracht und war zu einem Rugbyspiel in Cambridge mitgenommen worden; sie erinnerte sich an schwerschenklige Männer in Shorts und gestreiften Hemden, die im Matsch miteinander rangen unter den tiefhängenden feuchten kühlen Wolken und sich gegenseitig anrempelten – es gab ein Wort dafür, aber das fiel ihr nicht ein – und bei Spurts den glitschigen ovalen Ball auf eine zweihändigetänzelnde Art trugen, die komisch mädchenhaft wirkte auf eine Frau, die an die militärische Präzision und die frontalen Zusammenstöße beim

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