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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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Sie fand es liebenswürdig, dass er sie fragte, es zeugte von einer guten altmodischen Erziehung. Sie beobachtete, wie er sich auf zwei Sitzen auf der anderen Seite des Gangs ein kleines Büro aufbaute, und studierte dann das Gelände fünf Meilen unter ihnen, das ihr vertraut war von jenen ersten nervösen, holprigen Flügen nach Ohio vor so vielen Jahren und Meilen. Sie erkannte den Delaware und dann den Susquehanna, und während sie darauf wartete, dass die Stewardess mit ihrem rasselnden Frühstückswagen den Mittelteil des Flugzeugs erreichte, musste Carolyn eingenickt sein, denn sie erwachte, als werde sie grob geschüttelt; das Flugzeug bockte und rüttelte. Sie sah auf ihre Uhr: 9 : 28. Noch Stunden bis zur Ankunft.
    Ihr war, als höre sie weit vorn, über dem Dröhnen der Motoren, lautes Rufen, und das Flugzeug sackte so stark ab, dass sich ihr der Magen umdrehte. Aber die Gesichter rings um sie zeigten keine Beunruhigung, und die Köpfe, die sie über den Rückenlehnen sehen konnte, bewegten sich nicht. Das Flugzeug sackte nicht weiter ab, und eine Stimme kam über die Tonanlage und sagte, soweit Carolyn sie verstehen konnte, man solle sitzen bleiben. Die Stimme des Piloten klang verändert – angespannt und ausländisch. Wo war das Schleppende geblieben? Er sagte, soweit Carolyn es verstand: «Ladies und Gentlemen, hier der Kapitän. Bitte setzen Sie sich und bleiben Sie sitzen. Wir haben Bombe an Bord. Also hinsetzen.»
    Dann stand ein junger Mann vor dem Vorhang zur ersten Klasse. Er war schlank und rührend anmutig und zögerlich in der Art, wie er seine Hände benutzte; er schien keine Waffe zu haben, hatte jedoch jedermanns Aufmerksamkeit gewonnen, und der unbeholfene Wechsel in der Art, wie mit dem Flugzeug umgegangen wurde, hing irgendwie mit ihm zusammen. Um ihn war eine Aura nervöser Erregtheit; seine Augen zeigten zu viel Weiß. Seine Augen waren alles, was zu sehen war; ein großes rotes Kopftuch – ein dicker karierter Stoff, fast ein Schal – verdeckte die untere Hälfte seines Gesichts und dämpfte seine Stimme. Dann kam ein anderer junger Mann, ein stämmigerer, hinter dem Vorhang hervor, auch er mit Tuch und einem merkwürdigen Apparat um die Brust; er hielt eine Hand mit einem Draht hoch, der zu diesem Apparat führte. Er schüttelte die Hand und schrie das Wort «Bombe! Bombe!» und dann noch einige andere Wörter in seiner eigenen melodischen Sprache, weil er einer anderen nicht traute. Die Leute schrien. «Zurück! Zurück!»,rief der dünnere Junge und machte mit Handbewegungen klar, dass alle in den hinteren Teil des Flugzeugs gehen sollten.
    Carolyn begriff, dass diese Jungen so gut wie kein Englisch konnten, sodass die Männer, die vorn saßen und versuchten, mit den beiden zu reden und ihnen Fragen zu stellen, sich vergeblich mühten. Einige der Männer standen; man hatte sie gezwungen, die erste Klasse zu verlassen. Dann begannen alle gehorsam aufzustehen und den Mittelgang hinunter nach hinten zu gehen, vornübergebeugt wie Tiere, dachte Carolyn, die geschlagen werden. Die Rotblonde zwei Reihen vor ihr – ihre Haare oberhalb der Rückenlehne wie Zuckerwatte, ihr Kopf gegen den des Jungen neben ihr gelehnt, ihr Mann wahrscheinlich, obwohl Paare heutzutage nicht mehr unbedingt verheiratet waren, ihre eigenen Enkelkinder bewiesen das – berührte im Vorbeigehen Carolyn an der Schulter: «Sie müssen nicht umziehen», sagte sie leise. Carolyn sitze schon weit genug hinten, sollte das heißen.
    «Vielen Dank, Liebes», erwiderte Carolyn und klang in ihren eigenen Ohren alt und töricht.
    Sie – die Passagiere und drei Flugbegleiterinnen, es waren aber vier gewesen – ließen sich um sie herum nieder, anfangs in angsterfülltem Schweigen. Aber als der Junge mit der Bombe und der Junge ohne Bombe nicht zu ihnen nach hinten kamen, sondern vorn vor dem Vorhang zur ersten Klasse blieben, als seien sie selbst von Furcht gelähmt, erhob sich geräuschvolle Unterhaltung unter den Passagieren, wie auf einer Cocktailparty, wenn der Alkohol sich bemerkbar macht, oder in einem Klassenzimmer an einem Regentag, wenn die Disziplin fortgespült wird. Hier und da sprachen Leute in ihre Mobiltelephone, auch der Rugbyspielerauf der anderen Seite des Gangs, der sein kleines Büro auf den beiden Lunchtabletts zusammengepackt hatte. Seine Hand, die den kleinen Apparat an sein Ohr hielt, sah kräftig aus mit den roten Knöcheln und dem breiten Trauring. Sein Hemd hatte französische Manschetten mit

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