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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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Les als Anlageberater arbeitete.
    Einmal erspähte er sie von seinem Fenster aus, als sie gedankenverloren und ernst in einem dunklen Tuchmantel mit weitem Rock auf der anderen Straßenseite zur Behandlung ging. Danach hielt er immer wieder am Fenster nach ihr Ausschau und trauerte um das Jahrzehnt, das sie hatten verstreichen lassen, während sie mit anderen verheiratet waren. Lisas elastisches Herumgespringe im Freien und ihre sommersprossige Frohnatur hatten etwas Maskulines bekommen; ihre Haare wurden wie die ihrer Mutter frühgrau. Von Gregor hieß es, dass er unzufrieden sei und Affären habe. Les stellte sich diese Betrügereien wie Wunden vor, die Veronica im stillen Gefängnis ihrer Ehe erduldete. Er sah sie immer noch auf Partys, aber auf der anderen Seite des Zimmers, und wenn es ihm gelang, sich in ihre Nähe zu manövrieren, hatte sie wenig zu sagen. Während ihrer Affäre hatten sie neben dem Sex Sorgen wegen ihrer Kinder geteilt und Erinnerungen an ihre Eltern und ihre Erziehung. Sich einander so zu öffnen, begierig Anteil zu nehmen am Leben eines anderen, gehört zu den kostbaren Dingen, die Liebende verlieren – ein Strom von Vertraulichkeiten, der, angehalten, einen Druck aufbaut.
    Als er Veronica beim Verlassen des Zahnarztgebäudes sah – unverwechselbar sie, obgleich er zehn Stockwerke hoch war und sie warm vermummt gegen die Winterwinde, verließ er sein Büro, ohne sich mit einem Mantel abzugeben, und lauerte ihr auf dem Gehweg einen halben Block entfernt auf.
    «Lester! Was um alles in der Welt –» Sie stemmte ihre in Fäustlingen steckenden Hände in die Hüften, um Entrüstung zu mimen. In einigen Schaufenstern waren noch Weihnachtsdekorationen und fingen Staub, und Lametta von weggeworfenen Tannenbäumen glitzerte im Rinnstein.
    «Gehn wir zum Lunch», bat er. «Oder ist dein Mund noch von Novocain betäubt?»
    «Novocain war heute nicht nötig», sagte sie abweisend. «Er hat bloß eine provisorische Krone angepasst.»
    Das Detail erregte ihn. In der Wärme einer Nische in seinem liebsten Lunchlokal staunte er über ihre Gegenwart auf der anderen Seite des Tisches. Sie hatte widerstrebend ihren dunklen Wollmantel ausgezogen, darunter trugsie einen leuchtend roten Cardigan und eine Kette aus rosa Modeperlen. «Wie ist es dir ergangen in diesen vielen Jahren?», fragte er.
    «Warum machen wir das?», fragte sie. «Kennen dich die Leute hier denn nicht alle?»
    Sie waren früh gekommen, aber das Lokal füllte sich, unter Lärm und mit einem kurzen scharfen Luftzug, jedes Mal, wenn die Tür geöffnet und geschlossen wurde. «Sie kennen mich, und sie kennen mich nicht», sagte er. «Aber zum Teufel, wovor sollten wir Angst haben? Du könntest eine Klientin sein. Du könntest eine alte Freundin sein. Was du ja auch bist. Wie geht’s dir gesundheitlich?»
    «Gut», sagte sie, und er wusste, dass es eine Lüge war.
    Aber er redete weiter: «Und deine Kinder? Ich höre gar nichts mehr von ihnen – es gab den wilden Rabauken und die sensible Schüchterne, die du an manchen Tagen nicht ertragen konntest.»
    «Das ist lange her», sagte Veronica. «Ich kann Jane jetzt gut ertragen. Sie und ihr Bruder sind beide im Internat.»
    «Weißt du noch, wie wir immer um die beiden herumorganisieren mussten? Erinnerst du dich, wie du Harry einmal zur Schule geschickt hast, obwohl er Fieber hatte, weil wir beide verabredet waren?»
    «Das hatte ich vergessen. Ich würde lieber nicht daran erinnert werden; es beschämt mich jetzt. Wir waren dumm und leichtsinnig, und du hattest recht, Schluss zu machen. Ich habe eine Weile gebraucht, es zu verstehen, aber ich versteh’s jetzt.»
    «Na, ich nicht. Ich war verrückt, dich aufzugeben. Ich habe mich zu wichtig genommen. Kinder – meine sind jetzt auch Teenager und weg, auf der Schule, und ich sehe sie anund frage mich, ob es sie je einen feuchten Kehricht geschert hat.»
    «Natürlich hat es das, Lester.» Sie schlug die Augen nieder, zur Tasse mit dem heißen Tee, den sie bestellt hatte, trotz seines Drängens, sie solle, wie er, etwas Alkoholisches nehmen. «Du hattest recht: lass es mich nicht noch einmal sagen.»
    «Ja, aber nun, wo ich wieder mit dir zusammen bin, kommt es mir verzweifelt falsch vor.»
    «Wenn du mit mir flirtest, muss ich gehen.» Auf diese Drohung spulte sich in Veronica eine lange Gedankenkette ab, die damit endete, dass sie feierlich sagte: «Gregor und ich lassen uns scheiden.»
    «O nein!» Les hatte das Gefühl, die Luft habe

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