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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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sie waren in Gefahr, unzertrennlich zu werden.

    Wieder an der Bushaltestelle – einem dreieckigen Platz, auf dem es von jungen Europäern wimmelte, die sich bis auf ihre Shorts und Rucksäcke ausgezogen hatten –, vergrößerte Brad die Distanz, indem er kindlich hartnäckig auf seinem Wunsch bestand, an einem der tragbaren Stände, die überraschend verbreitet waren in der düsteren alten Stadt, ein mit Schokolade überzogenes Eis am Stiel zu kaufen. «Tu’s nicht», bat Leonora. «Der Bus kommt gleich.»
    «Nein, tut er nicht», sagte er. Es gab eine Sorte – Vanille in einer wie mit Raureif überzogenen braunen Haut, die hubbelig war von kleinen Nussstückchen –, nach der es ihn ganz besonders gelüstete. Er sah sie kaum je in Downtown Boston, wo Männer in Börsenanzügen im Allgemeinen nicht Stammgäste an Süßigkeitsständen sind. «Willst du mal abbeißen?», fragte er und hielt den Leckerbissen seiner Gefährtin mit den graugesträhnten Haaren und dem tadelnden Stirnrunzeln unter die Nase.
    «Ganz bestimmt nicht. Iss schnell – in Bussen darf man nicht essen. Was für ein Kleinkind!»
    Und Leonora schrie leise auf, mit einer Panik, die eines ernsteren Falls bedurft hätte, als der Bus eine Minute später kam. Im Gedränge an der Tür hielt er das halb abgeknabberte Eis am Stiel hinter dem Rücken, damit der Fahrer es nicht sah. Leonora war entsetzt, als sie sich hinten im Bus Plätze suchten und er immer noch an dem Holzstäbchen mit seiner schmelzenden Last lutschte. Sie sagte, jedes Wort sorgfältig betonend: «Du bist ein ekelhaftes, selbstsüchtiges Kleinkind.»
    Er wartete mit seiner Antwort, bis er sagen konnte: «Da. Alles weg. Ohne zu kleckern. Du darfst dich entschuldigen, wann immer du möchtest.» Um noch lästiger zu sein, fragteer sie: «Was soll ich mit dem Stäbchen machen? Könntest du es in deine Handtasche tun?
Bitte?
Bitte, bitte?»
    Der Bus mied die aufgerissenen Straßen auf seiner Rückfahrt, überquerte den Fluss auf einer ebenen Straßenbrücke und hielt zehn Minuten später gegenüber vom Bahnhof. Seine neue Rolle als aufsässiger ungezogener Junge genießend, sagte Brad zu Leonora: «Okay, Smartie. Wir sind da. Vierzig Minuten zu früh. Ich hoffe, du bist glücklich.»
    «Ich bin nicht
un
glücklich», sagte sie. Ihre besorgte Heftigkeit war jäh einer weicheren, spielerischen Laune gewichen. Anstatt über die Straße zum Bahnhof zu gehen, zeigte sie auf einen wenige Schritte entfernten Automaten. «Vielleicht kannst du mir eine Flasche Wasser besorgen.» Das Einwerfen des Euro und das antwortende Poltern der kalten Flasche waren eine Transaktion, die sie beide befriedigte; nach zwei Wochen in diesem Land fanden sie sich langsam zurecht. «Lass uns ein Stück hinuntergehn», sagte Leonora. «Dahin, wo du deiner Meinung nach die Leute zu dieser Brücke hast gehn sehn, von der du sagst, dass sie so bedeutend ist.»
    «Ich habe nicht gesagt, dass sie bedeutend ist, sie ist nur etwas, woran ich mich erinnern konnte. Eines der erschreckend wenigen Dinge.»
    Die Straße führte um eine schiefe Hausecke und dann malerisch am Fluss entlang, Verkehr gab es kaum. Jenseits einer niedrigen Steinmauer, am Flussufer, wuchs hohes Gras und dazwischen Mohn und weiße, gänseblümchenähnliche Blumen von mittelalterlicher Einfachheit. Der Weg war kurz, kaum einen städtischen Häuserblock lang, bis zum Ende der alten Brücke mit ihren verstärkten Toren, ihren ockerfarbenen Bögen. Die Straße, auf der sie gekommen waren, warvon der anderen Seite unsichtbar gewesen, leicht eingesunken,
semihundido
.
    «So – ich hatte recht», sagte er. Aber als er über den Fluss blickte, sah er, dass Leonora recht gehabt hatte, was den Zugang vom Parkplatz betraf; er konnte keine Treppenstufen erkennen. Man hätte auf müden Füßen einen langen, diagonal hinunterführenden Weg gehen müssen. «Okay, danke», sagte er. «Lass uns zurückgehn, damit wir den Zug nicht verpassen.»
    «Nein, ich möchte, dass du auf die Brücke gehst. Wir haben Zeit. Wie dumm ich war, Brad, nicht auf dich zu hören – sie war so
nah
. Es ist mir peinlich, dass ich so bockig gewesen bin. So un-simpatico.» Die Brücke war menschenleer gewesen, als sie sie vorhin gesehen hatten, aber jetzt spazierten und trödelten ganze Familien, von kleinen Kindern bis zu patriarchalischen, schwarzgekleideten Männern mit Stock, zwischen den hüfthohen Mauern. Leonora bestand darauf, ihre kleine Kamera aus der Handtasche zu holen und Brad am

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