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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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schwebte und nach Hubble benannt war, offenbarten einen Schwarm faseriger Ovale, jedes eine Milchstraße. Diese Offenbarungen – betäubend für jene, die ernsthaft versuchten, sich einen Begriff zu machen von den Entfernungen und den Zeiträumen, den titanischenMengen fühlloser Materie, die sich anhäufte, explodierte und sich zerstreute in einer nicht ganz unendlichen Leere, in der es von virtuellen Teilchen brodelte – hatten Fairchild die leise Hoffnung gegeben, es könnte sich doch noch alles wenden: ein Kulminationsteil im großen Himmelspuzzle würde die Menschheit rechtfertigen in ihrem Gefühl, von zentraler Wichtigkeit zu sein, und eine achtsame Barmherzigkeit enthüllen, die sich hinter den himmlischen Ordnungen verborgen hielt.
    Aber mit der Entdeckung, die zwei voneinander unabhängige Forscherteams machten, schien bewiesen, dass in der Tiefe des Raums nicht nur kein Nachlassen der Geschwindigkeit der entferntesten Galaxien, sondern, im Gegenteil, eine nachweisbare Beschleunigung herrschte, sodass letztlich eine Zerstreuung von allem in absolute Kälte und Finsternis hinaus mit Sicherheit vorhergesagt werden kann. Wir reiten auf einer sinnlosen Explosion ins Nirgendwo. Nur eine unsichtbare, übelwollende Antigravitation, eine sogenannte Dark Force, konnte die Erklärung dafür sein. Warum sollte Fairchild es persönlich nehmen? Das Universum würde ihn um ein großzügiges Mehr an Zeit überleben – diese Wahrheit war immer da gewesen. Aber er hatte sich irgendwie auf die Ewigkeit verlassen, darauf, dass es eine Ewigkeit gab, auch wenn er nicht eingeladen war, an ihr teilzuhaben. Die sich beschleunigende Ausdehnung des Universums gab der umgebenden Unermesslichkeit eine schmähliche Begrenztheit. Die alten hypothetischen Strukturen – Gott, Paradies, das moralische Gesetz in dir – hatten nicht die Spur einer Basis mehr. Alles würde wegschmelzen. Obwohl kein Mystiker, hatte er immer einen heimlichen Trost bei der Idee eines universalen Pulsschlags gefunden, eines abwechselndenBig Bang und Big Crunch, bei denen jedes Mal alle Materie in einen unvorstellbar kleinen Feuerofen geworfen und umgestaltet würde – ein submikroskopischer Punkt neuen Anfangs. Jetzt war ihm dieser Trost genommen worden, und er driftete in einen stationären Zustand, einen Steady State – ein ihn von allem entfremdendes Fieber der Depression, kaum wahrnehmbar von jenen, die um ihn waren.

    Fairchild hatte bislang nicht ernstlich daran geglaubt, dass er alt werden würde. Er konnte im Spiegel seine immer zahlreicher werdenden weißen Haare sehen, seine sich tiefer eingrabenden Falten und seine Kurzatmigkeit nach einer Anstrengung spüren, seine Steifheit nach zu langem Sitzen in einem Sessel oder im Auto; aber diese Phänomene fanden in sicherer Entfernung vom Zentrum seines Seins statt. Sein innerstes Selbst war im Wesentlichen ausgenommen vom Verfall.
    Seine geduldige tägliche Arbeit und dazu ein stetiges Mehr an Pomp und Prestige, je höher er in seiner Firma aufstieg, hatten ihm ermöglicht, eine üppige Summe beiseitezulegen, die es ihm erlaubte, alle sechs Monate mit seiner Frau eine Auslandsreise zu machen. Die üblichen Touristenziele in Europa hatten sie nach und nach fast alle hinter sich gebracht – England, Frankreich, Italien, Griechenland, Skandinavien. Sie war nie in Spanien gewesen und er nur einmal, ein hastiger Studententrip, der kaum Spuren in seinem Gedächtnis hinterlassen hatte. Nach Madrid und der obligatorischen Tagesreise per Flugzeug nach Bilbao, zu Frank Gehrys Titan-Wal, fuhren sie nach Süden, in das Land, wo die Mauren jahrhundertelang Zitronen anbauten, filigrane Moscheen errichteten und an den plätschernden Brunnen in den Innenhöfen Liebeslieder sangen.
    Sevilla schien es ein wenig an Zauber zu fehlen, oder die Fairchilds waren es müde, bezaubert zu werden. Sie waren gerade aus Granada und Córdoba gekommen. In jeder Kathedrale, jedem Palast lauerte der finstere christliche Stolz, dass die Mauren mit ihrer überlegenen Kultur und religiösen Toleranz aus dem Land verjagt worden waren. Der Alcázar-Palast und die Kathedrale Santa Maria de la Sede waren beide, so schien es Fairchild, größer, als sie es hätten sein müssen, und in den engen Straßen des alten Ghettos, wo ihr Hotel war, herrschte starker Verkehr: röhrende Mopeds, klapprige Lieferwagen, die die «Nur für Fußgänger»-Schil der ignorierten.
    Eines Spätnachmittags, als das in die Jahre kommende Paar mit der Besichtigung

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