Die Tränen meines Vaters
anderen Ende der Brücke, mit dem kunstvollen Turm und dem Tor, zu photographieren. Die uralten hohen Holztore, dunkel geworden und voller Risse, hatten noch immer die Beschläge, heraldische Metallblüten in rigorosen Reihen, die ihm ins Gedächtnis genagelt waren. Hier hatten sie damals gestanden, im gleichen warmen Staub, die Mutter, die Tochter und er, seine schwitzende Mutter sagte etwas, um den Augenblick amüsant zu machen, oder sie schrieb etwas in ihr Notizbuch – ebendas, was seit langem verloren war, und ihr Roman war nie veröffentlicht worden.
Leonora steckte die Kamera ein und stand in der Hitze, die von den alten Steinen abstrahlte, näher bei Brad als nötig – eher eine europäische als eine amerikanische Unterhaltungsdistanz.«Na, war ich nicht nett», flirtete sie, «dass ich für dich die Brücke deiner lieben Mutter gefunden habe, nachdem du so hässlich zu mir warst?»
Sie hatte ihm eine Brücke geschenkt. «O ja, sehr», sagte er. «Du warst sehr nett. Ich will nie wieder hässlich zu dir sein.»
Ihr blasses spitzes Gesicht in seiner hoffnungsvollen Unsicherheit, seiner schüchternen Entschlossenheit zu gewinnen, hatte Jahre abgestreift; es war dem seinen so nah, dass er die Shrimp-Paella roch, die sie sich zum Lunch geteilt hatten, und das flüssige Dunkel ihrer spanischen Augen verschlang ihn mit einer inständigen Bitte.
Verletzbare Ehefrauen
Veronica Horst wurde von einer Biene gestochen, und der Ärger darüber und der Schmerz hätten höchstens eine Minute andauern dürfen, aber mit neunundzwanzig Jahren von scheinbar blühender Gesundheit, erwies sie sich als empfänglich für anaphylaktischen Schock und starb fast. Glücklicherweise war ihr Mann Gregor bei ihr, er warf ihren der Ohnmacht nahen Körper mit dem sinkenden Blutdruck in sein Auto und raste durch das Herz der Stadt zum Krankenhaus, wo sie gerettet wurde. Als Les Merill von seiner Frau Lisa, die gerade atemlos von einer Runde Klatsch und Damentennis kam, über das Ereignis informiert wurde, empfand er einen Stich der Eifersucht; er und Veronica hatten im Sommer eine Affäre gehabt, und nach den Gesetzen der Liebe hätte er derjenige sein müssen, der bei ihr war und sie heroisch rettete. Gregor hatte hinterher sogar die Geistesgegenwart, zur Polizei zu gehen und zu erklären, warum er so schnell gefahren sei und die Stoppschilder nicht beachtet habe. «Es erscheint ganz unglaubwürdig», sagte Lisa arglos zu ihrem Mann, «sie ist demnächst dreißig und anscheinend noch nie gestochen worden, niemand konnte also wissen, dass sich eine solche Reaktionbei ihr zeigt. Als Kind bin ich dauernd gestochen worden, du nicht auch?»
«Ich glaube», sagte er, «Veronica ist in der Großstadt aufgewachsen.»
«Trotzdem», sagte sie, zögernd angesichts seiner prompten Erklärung, «das ist keine Garantie. Es gibt Parks.»
Les, der sich Veronica in ihrem Haus vorstellte, in ihrem Bett, wo ihm eine langgliedrige rosagetönte Blässe, wie bei einem Modigliani oder einem Fragonard, offenbart worden war, sagte: «Sie ist ziemlich viel drinnen.»
Lisa nicht. Tennis, Golf, Wandern, Skilaufen: ihre Sommersprossen verblassten das ganze Jahr über nicht. Sogar ihre delftblaue Iris war, wenn man genau hinsah, mit bräunlichen Melaninflecken getüpfelt. Sie insistierte: «Hör mal, sie ist fast gestorben», als ob Les vom Thema abgekommen sei. Sein Geist hatte gerade die grundstürzende Möglichkeit erforscht, dass Veronicas Schönheit und Beschwingtheit durch ein chemisches Missgeschick beinah von dieser Welt verschwunden wäre. Hätte sie sich letzten Sommer, in einem Augenblick der Not, in die Obhut ihres Liebhabers gegeben, wäre er vielleicht nicht so tatkräftig gewesen wie Gregor, der klein und dunkel war und Englisch wenn nicht mit einem Akzent, so doch mit einer beflissenen Präzision sprach, als hielte er den Sinn seiner Worte in einem massiven Metallgehäuse verschlossen. Sie fand ihn abstoßend, hatte Veronica gestanden – seine Umstandskrämerei, seine diktatorischen Anwandlungen, die kalte Bestimmtheit seiner Berührungen –, aber Les, der in den letzten Tagen jenes Sommers ihrer Affäre ein Ende machte, hatte dadurch wahrscheinlich ihr Leben gerettet. Wäre er an Gregors Stelle gewesen, hätte er vielleicht Panik bekommen, nicht begriffen, worum es eigentlichging, und fatalerweise zu handeln versäumt. Verdrossen sah er voraus, dass der Vorfall in die Annalen der Familie Horst eingehen würde als ein Schlüsselereignis, ein
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