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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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herzhaften Küche die Bürger immer noch mit traditionellem Komfort und der Illusion von Wohlstand. Ich erinnere mich, dass ich mir eine Straßenecke vom Bahnhof entfernt eine Zigarette anzündete, und obwohl ich nicht wusste, wie man inhaliert, ließ der erste Zug meine Nerven vibrieren; mir war, als höbe der Gehsteig sich mir entgegen, und die ganze Welt schien leichter. Von dem Tag an konnte ich mit den glamouröseren meiner gleichaltrigen Schulkameraden, die alle schon rauchten, gesellschaftlich mithalten.
    Selbst meine meist zu Haus bleibende Mutter, keine Reisende, aber eine Leserin, hatte eine Beziehung zum Bahnhof: es war der einzige Ort in der Stadt, wo man ihre Lieblingsmagazine kaufen konnte,
Harper’s
und
The New Yorker
. Wie in der stattlichen von Carnegie gestifteten Bibliothek zwei Blocks weiter unten an der Franklin Street fühlte man sich im Innern des Bahnhofs sicher. Beide Gebäude waren für die Ewigkeit errichtet worden, denn Eisenbahnen und Bücher, dachte man, würden für alle Zeit zu uns gehören. Der Bahnhof war ein quadratischer Granittempel mit Marmorfußböden und einer hohen Decke, deren vergoldete Kassetten durch einen Überzug aus Kohlenrauch schimmerten. Die Wartebänke mit den hohen Rückenlehnen waren so würdevoll wie Kirchenbänke. Die Heizkörper klopften, und die karamellfarbenen Wände murmelten, als gäben sie etwas von den menschlichen Geräuschen zurück, die sie Tag und Nacht absorbierten. Am Zeitungskiosk und im Coffeeshop herrschte meistens Betrieb, und der Wartesaal war immer warm, wie mein Vater und ich an mehr als einem Winterabend festgestellt hatten. Wir waren zur selben Highschool gefahren, morgens hin, abends zurück, er als Lehrer, ich als Schüler, in Gebrauchtwagen, die oft nicht anspringen wollten oder in einem Schneesturm stecken blieben. Wir gingen dann zu dem einzigen Ort, von dem wir sicher wussten, dass wir Einlass fänden: dem Bahnhof.
    Wir sahen nicht voraus, in jenem Augenblick auf dem Bahnsteig, als das Läutwerk eine halbe Meile weiter hinten am Geleise die Einfahrt meines Zugs ankündigte, dass innerhalb eines Jahrzehnts der Personenverkehr nach Philadelphia eingestellt und der Bahnhof schließlich, wie alle Bahnhöfe im Osten, verrammelt und verriegelt werden würde.Das schöne alte Gebäude stand auf seinen leeren viertausend Quadratmetern asphaltierter Parkfläche wie ein überdimensionales Mausoleum. Alles Leben, das es einst in ihm gegeben hatte, war in Schweigen versiegelt, und die restlichen Jahre des Jahrhunderts wartete es schmachvoll darauf, in dieser Stadt, in der der Fortschritt angehalten worden war, dem Erdboden gleichgemacht zu werden.
    Aber mein Vater sah sehr wohl voraus – das Glitzern in seinen Augen sagte es mir –, dass die Zeit uns aufzehrte: dass der Junge, der ich gewesen war, starb, wenn er nicht schon tot war, und dass wir immer weniger miteinander zu tun haben würden. Mein Leben war aus seinem gekommen, und jetzt stahl ich mich mit diesem Leben davon. Der Zug fuhr ein, die Lokomotive, mit ihren hohen Rädern und dem langen Verbindungsgestänge und dem riesigen zylindrischen Dampfkessel stand in keinerlei Verhältnis zu den kleinen weichen Körpern, die sie hinter sich herzog. Ich stieg ein. Meine Eltern wirkten kleiner, perspektivisch verkürzt. Wir winkten uns verlegen durch die verschmierte Scheibe zu. Ich schlug mein Buch auf –
Die gesammelten dichterischen Werke von John Milton
–, noch bevor Altons rußige Außenbezirke hinter mir lagen.
    Am Ende des langen Reisetages, an dem ich nicht an Bostons Südbahnhof ausstieg, sondern an der Back-Bay-Station, eine Haltestelle früher und näher bei Cambridge, wurde ich von meiner Freundin abgeholt. Was für ein stolzes Gefühl das war, den ganzen Tag Milton zu lesen, die verhältnismäßig farblosen und schwer auswendig zu lernenden Pentameter von
Paradise Regained
, und dann, vor den Augen anderer aussteigender Studenten auf dem Bahnsteig abgeholt und umarmt zu werden von einem Mädchen – nein, einerFrau – in grauem Tuchmantel, Tennissneakers aus Segeltuch und mit einem Pferdeschwanz. Es muss die Frühlingspause gewesen sein, denn wenn Deb mich abholte, wären die eigentlichen Ferien zu kurz für sie gewesen, um nach St. Louis zu fahren, wo sie zu Hause war, und wieder zurück. Stattdessen hatte sie eine Woche auf meine Rückkehr gewartet. Sie neigte dazu, sich im langen New-England-Winter zu leicht anzuziehen, während ich den schweren Wintermantel mit

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