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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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seines Exils. Seine Mutter war noch eine Stadtbewohnerin, zählte noch auf die Zivilisation, gab kostbare Krisendollars aus in der gutgläubigen Zuversicht, ihren Sohn aus der großen Masse herauszuheben. Ihm war klar, und Miss Schiffner musste es auch klar gewesen sein, dass er kein kleiner Mozart war, der bald auf Zehenspitzen vor den Tasten stehen und sein erstes Menuett komponieren würde.
    Jeff Langs selbstgefällige rubinrote Rücklichter folgten dem Kreisverkehr, am Spirituosenladen vorbei, und eilten dann die Fourth Street hinauf, auf die alten Textilfabriken zu, die als Discount-Outlets wiedergeboren wurden und dann wieder leerstanden; die Busse voller Schnäppchenjäger aus Baltimore fuhren jetzt lieber zu den neueren Outlets bei Morgan’s Forge. Kern fiel ein, dass es hinter ihm, einenBlock von der Fourth Street entfernt, einen Diner gegeben hatte, der die ganze Nacht geöffnet war; dorthin war er, ein Teenager, der es nicht eilig hatte, auf die Farm zurückzukehren, immer gegangen, allein, nachdem er das Mädchen, mit dem er verabredet gewesen war, nach Hause gebracht hatte. Nach einer Tanzveranstaltung an der Olinger High war er mit einer ganzen Gang dorthin gegangen, die Mädchen alle in trägerlosen Taftkleidern, wenn es ein festlicher Ball gewesen war, ihre nackten Schultern hatten geschimmert in den Nischen. Jede Nische hatte ihre eigene kleine Jukebox gehabt, mit «Stardust» und «Begin the Beguine» und Russ Morgans «So Tired» unter den Titeln, die zur Wahl standen. Wenn Kern jetzt dorthin ginge, könnte er sich ein Stück Dutch Apple Pie mit einer Kugel Butterpekan-Eis bestellen, als Ersatz für den Nachtisch, auf den er verzichtet hatte.
    Er wollte gern umkehren, aber die Rücklichter der Langs entfernten sich unerbittlich und warteten an jeder Straßenkreuzung, dass er sie einhole. Er konnte es nicht glauben: sie leiteten ihn wie einen in der Stadt fremden Schwachkopf bis auf den Parkplatz des Alton Motor Inn. In seinem Kopf rief er wütend:
Ich weiß jetzt, wo ich bin! Ich bin hier!

Die Tränen meines Vaters
    Ich habe meinen Vater nur einmal weinen sehen. Es war auf dem Bahnhof von Alton, damals, als die Züge noch fuhren. Ich war auf dem Weg nach Philadelphia – eine Stunde Fahrt bis zur Endstation an der 30th Street, um dann am Bahnhof an der Market Street den Zug zu nehmen, der mich nach Boston und zum College zurückbringen würde. Ich brannte darauf zu fahren, denn mein Zuhause und meine Eltern waren schon ein wenig unwirklich für mich geworden, und Harvard mit seinen Kursen und den Hoffnungen für meine Zukunft, die sie weckten, und das Mädchen, das ich im zweiten Studienjahr zu meiner Freundin hatte machen können, waren mit jedem Semester realer geworden; es erschütterte mich – warf mich aus der Bahn, sozusagen –, als ich in den Augen meines Vaters, während er mir zum Abschied die Hand gab, Tränen glitzern sah.
    Ich schob es auf unseren Händedruck: achtzehn Jahre lang hatten wir nie Gelegenheit für diese Geste gehabt, diesen Kontakt zwischen Männern, und wir hatten uns erst vor kurzem zu diesem Kontakt hingetastet. Er war größer als ich, obgleich ich keineswegs klein war, und ich begriff, seine Hand warm in meiner, indes er zu lächeln versuchte, dassseine Perspektive eine andere war als meine. Ich ging fort, und er sah mich gehen. Ich wuchs in meinem Verständnis von mir selbst, und für ihn wurde ich kleiner. Er liebte mich, nie zuvor war mir das so klargeworden. Es war etwas, das bisher nicht gesagt zu werden brauchte, und jetzt sagten es seine Tränen. Vorher, in all den Jahren und den kleinen Abenteuern, die wir gemeinsam erlebt hatten, gab es das von ihm ausgehende Gefühl, dass das Leben ein Schlamassel war, und er und ich steckten eine Zeitlang zusammen in dem Schlamassel.
    Der alte Bahnhof von Alton war ein Ort nach seinem Geschmack, er hatte den Reiz des Übergangs und der flüchtigen kleinen Vergnügungen des Stadtlebens. Ich hatte hier meine erste Packung Zigaretten gekauft, ohne dass der Mann vom Zeitungskiosk Protest erhob, obgleich ich ein fast noch kindlich aussehender Fünfzehnjähriger war. Er gab mir einfach das Wechselgeld heraus und ein Streichholzbriefchen, das Reklame machte für Sunshine-Bier, aus Altons eigener Brauerei. Alton war eine mittelgroße Industriestadt, die wirtschaftlich am Boden lag, seit die Textilfabriken mehr und mehr nach Süden abwanderten. Aber die Stadt versorgte mit ihrem säuberlich angelegten Straßennetz und ihrer

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