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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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berührt hätte.
    Er formulierte langsam, für ihre Augen, die Worte: «Es ist wun-derbar, dich zu se-hen. Es tut mir leid, dass ich so spät gekom-men bin.»
    Die allgemeine Unterhaltung suchte in ihren Rhythmus zu kommen, und man überließ David, dem heimgekehrten verlorenen Sohn, eine Weile das erste Wort. Die Fragen, die er stellte, die Einzelheiten, die ihm einfielen, stiegen aus Jahren auf, die für ihn die Frische und Dringlichkeit jugendlicher Erinnerungen hatten, die aber für seine Freunde begraben waren unter dem Treibsand von Jahrzehnten, von Tausenden von Tagen, die sie in dieser immer gleichen Region verbracht hatten, heranreifend, heiratend, Kinder zeugend, Eltern zu Grabe tragend, arbeitend, sich zur Ruhe setzend. Er rief über den Tisch Ned zu: «Weißt du noch, wie unsere Mütter jeden Sommer einmal mit uns zum Goose-Lake-Vergnügungspark gefahren sind, am Ende der Straßenbahnlinie? Sie saßen dann nebeneinander auf einer Bank», erklärte er den anderen, «und Ned und ich sind in die Spielhalle gegangen und haben Pennies in diese kleinen Papier-Peepshows gesteckt, die man selbst ankurbelte – Mädchen in Petticoats haben den Hootchy-Kootchy getanzt, alles sehrbrav, rückblickend. Was die Kids sich heutzutage ansehn, meine Güte.»
    Jahrzehntelanges Lehren hatte ihn vielleicht zu glattzüngig gemacht. Er beschwor laut die Straßenbahnwagen herauf, die es längst nicht mehr gab – die rutschigen Korbsitze, die Messinggriffe an den Ecken, mit denen man die Rückenlehnen am Ende der Linie vor- und zurückstellen konnte, der ernst blickende Schaffner mit dem mechanischen Geldwechsler am Gürtel. «Wie alle diese vorelektronischen Sachen war das Ding einfach
genial

    «Jedes Kind musste so eins haben», fiel Ned bekräftigend ein.
    «Genau!», rief David. Er erinnerte mit lauter Stimme an Neds altes Haus – die ungeheuer vielen Spielsachen, das Spielzimmer im Souterrain, der Platz draußen an der Hausseite groß genug für Fungo mit einem Tennisball und die verglaste Seitenveranda mit den Schieferfliesen, wo sie stundenlang, ohne Pause, Monopoly spielten. Kern, ein Lehrersohn, hatte Ned um dieses Haus beneidet und wollte es rühmen. Aber er hatte den Namen von Neds Lieblingslabrador eine Spur falsch in Erinnerung, Blacky, nicht Becky; Ned korrigierte ihn mit einer untypischen gereizten Ungeduld.
    Bei Monopoly musste Kern an ihre Canasta-Begeisterung im vorletzten und letzten Schuljahr denken, unzählige Reihen von Karten, ausgelegt auf den Esszimmertischen ihrer Eltern, und fragte, ob jemand noch die Regeln wisse. Niemand sagte etwas. Marjorie Miller bekam langsam einen glasigen Blick und sagte bestimmt, auf ihrer Highschool habe niemand Canasta gespielt; das Spiel, insistierte sie, sei nie in ihren Teil des County vorgedrungen.
    Respektvolle Kellner nahmen inzwischen die Bestellungenentgegen und servierten das Essen. Sie redeten Ned mit «Mr. Miller» an und Sandra mit «Mrs. Lang»; nur Kern blieb ohne Namen, der Außenseiter. Er hatte Fakultätsclubs und Golfclubs angehört, weit weg von hier, aber wäre er hiergeblieben, ein Mitglied des Alton Country Club hätte er nie werden können; für den Sohn eines Lehrers war der Weg in diese Räume versperrt.
    Er fühlte sich müde von den Abenteuern des Tages und wurde verhältnismäßig schweigsam, und seine Tischgenossen begannen, sich über Lokales zu unterhalten – über den neuesten Skandal um den Bürgermeister von Alton, über die hoffnungslosen Zustände in der Innenstadt, die Invasion hispanischer Drogendealer, die Schicksalsschläge (Krankheiten, geschäftliche Fehleinschätzungen, unüberlegte zweite Eheschließungen), von denen gemeinsame Freunde betroffen waren. Kern fand, dass Sandra bei der Unterhaltung recht gut mitkam, ihre ruhigen graugrünen Augen blickten rasch von einem Mund zum andern, und ihre Lippen öffneten sich oft zu einem Lachen. Wenn sie lachte, brachten die fröhlichen perlenden Töne, ein wenig rauer als vermutet, in Kerns Kopf eine Saite zum Klingen, die er das erste Mal während der Pause in der Grundschule gehört hatte, auf dem gepflasterten Spielplatz, der das alte rote Backsteingebäude umgab und streng unterteilt war in einen Bereich für die Jungen und einen für die Mädchen. Ihre Stimme, nicht laut, war dennoch aus denen all der anderen Mädchen beim Spielen herauszuhören gewesen. Er musste schon damals darauf geachtet haben.
    Die Kellner – nur zwei, denn an diesem Abend war kaum Betrieb – standen in

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