Die Tränen meines Vaters
Schlange und dem Sündenfall, dem Verrat im Garten und der Erlösung am Kreuz: «Warum hast du mich verlassen?», und Pilatus, der sich die Hände wäscht, und Wiederauferstehung am dritten Tag, posthume Abendmahle in einem oberen Gemach und der ungläubige Thomas und Engel, die an den schattigeren Rändern von Jerusalem schweben, die Unterweisungen der Jünger und Paulus, den es auf der Straße nach Damaskus von seinem Esel reißt, und die Jünger, die in Zungen reden, eine Gewohnheit, die den wackeren Kirchgängern von Alton und Umgebung nun doch zu weit ging. Unser Schultag begann mit einer Bibellesung und dem Vaterunser; unsere Lehrer und Banker und Bestattungsunternehmer und Postboten, alle bekannten sich dazu, Christen in herkömmlichem Sinn zu sein, und was für sie gut genug war, glaube ich, habe ich gedacht, sollte auch für Unitarier gut genug sein. Ich war an das Gefühl gewöhnt worden,dass es keine Freude im Leben geben könne ohne religiösen Glauben, und wenn ein solcher Glaube ein intellektuelles Opfer verlangte, dann musste es eben sein. Ich hatte genug Kierkegaard und Barth und Unamuno gelesen, um etwas vom Wagnis des Glaubens zu wissen, und Reverend Whitworth ging dieses Wagnis nicht ein; er hielt stattdessen Mittagsschläfchen und baute Steinmauern. In seinem Schlafzimmer sah ich einen Paperback-Tillich liegen –
Der Mut zum Sein
, höchstwahrscheinlich –, aber ich habe ihn nie dabei überrascht, dass er darin las, auch nicht in den
Meisterwerken der Philosophie
. Das einzige Mal, da ich ihn als frommen Mann empfand, war, als er mit bedächtiger Güte zu einer seiner drei Töchter sprach und in das «thee» und «thou» aus seiner Quäker-Kindheit fiel.
Es sollte tief bergab mit ihm gehen, alle Würde dahin, bevor er starb. Die Alzheimer-Krankheit wirkte sich nicht so sehr auf sein Gedächtnis aus, sie verstärkte vielmehr die milde Umständlichkeit und Gedankenverlorenheit, die immer schon da gewesen waren. Beim Gedächtnisgottesdienst für seine Frau, die an Krebs gestorben war, wandte er sich mir zu, bevor der Gottesdienst begann, und sagte mit einem freundlichen, wenngleich ratlosen Lächeln: «James, ich weiß nicht so genau, um was es geht, aber es wird sich sicher alles aufklären.» Er begriff nicht, dass für seine Frau, mit der er fünfundvierzig Jahre verheiratet gewesen war, eine Gedenkfeier gehalten wurde.
Als sie nicht mehr da war, verfiel er zusehends. Im Pflegeheim, in das wir ihn schließlich brachten, begann er, an der Aufnahme stehend, plötzlich zu wimmern und auf und ab zu ruckeln, als hüpfe etwas in seinen Hosen, und ich wusste, er musste urinieren, hatte aber nicht den Mut, raschmit ihm in den Waschraum zu gehen und seinen Penis für ihn aus dem Hosenschlitz zu nehmen; und so machte er sich und den Fußboden nass. Ich war, in jenen Jahren kurz vor meiner Trennung von Deb, der älteste Schwiegersohn, der erste Ehegefährte, sozusagen, in der verzweigten Familie, und ich versagte in meiner Rolle, obwohl ich immer noch einen gewissen Stolz auf sie empfand. Mein Schwiegervater hatte mir seltsamerweise immer, seit jenen ersten Sommern in Vermont, vertraut – hatte mir erst seine Tochter anvertraut und sich dann auf mich verlassen, als ich ihm half, die Steine an ihren Platz in seiner Mauer zu heben, wobei ich ihm einen Finger hätte einquetschen oder ihm einen Felsbrocken auf die Zehen hätte fallen lassen können. Trotz all meines Ressentiments – ich habe dergleichen nie getan.
In Wahrheit liebte ich ihn. Ebenso unfähig, jemandem Schaden zuzufügen, wie mein eigener Vater es war, stellte er weniger Ansprüche an die, die um ihn waren. Ein bisschen Stille während seines Nachmittagsschlafs scheint mir jetzt nicht zu viel verlangt, auch wenn es mich damals geärgert hat. Seine Theologie, oder sein Mangel an Theologie, erscheint mir jetzt als eine der großzügigen Anschauungen, an denen ich, dank ihm, Gefallen finden konnte. In seinem Kosmos hatten sich die Nebel des Aberglaubens fast ganz gelichtet. Zu seiner Gemeinde dort am Tor zum Westen gehörten Universitäts-Existenzialisten, und einiges von ihrer auf dem neuesten Stand befindlichen Philosophie raute seine altmodischen transzendentalistischen, mit weicher, versonnener Stimme gehaltenen Predigten auf. Obgleich Unitarier, gehörte er dem theistischen Zweig an, erzählte Deb mir im Bett, in der Hoffnung, zwischen uns zu vermitteln. Ich war,wie ich mich erinnere, nicht so unhöflich, mich oft mit ihm zu streiten,
Weitere Kostenlose Bücher