Die Tränen meines Vaters
vergessen, erinnerte sich aber, dass «lebt ernoch» zu sagen ebenso wie das einzelne Wort «tot» irgendwie taktlos war.
«Nein, Cookie», sagte ich jedes Mal. «Er ist 1972 gestorben, an seinem zweiten Herzinfarkt.» Merkwürdig, es kam mir nicht absurd vor, einen vierundsiebzig Jahre alten Mann mit einer Mehrfußgehstütze «Cookie» zu nennen.
Er nickte, mit ernster und ein wenig ratloser Miene.
«Es tut mir leid, das zu hören», sagte er.
«Es tut mir leid, dir das zu sagen», sagte ich, obwohl mein Vater inzwischen über hundert gewesen wäre und in einem Pflegeheim hohe Rechnungen hätte auflaufen lassen. Wie sich dann zeigen sollte, war sein Sterben weniger problematisch für mich als das von Reverend Whitworth.
«Und deine Mutter, Jimbo?», fragte Cookie beharrlich.
«Sie hat ihn um siebzehn Jahre überlebt», beschied ich ihn knapp, als gefalle mir dieser Umstand nicht. «Sie war eine fröhliche Witwe.»
«Sie war eine Dame mit sehr viel Würde», sagte er langsam und nickte, als stimme er sich selber zu. Es rührte mich, dass er versuchte, sich an meine Mutter zu erinnern, und dass das, was er sagte, auf ihre Beziehungen zur Außenwelt durchaus zutraf. Sie hatte nach außen hin Würde gehabt und war in ihrer Jugend schön gewesen oder, wie sie es während ihrer zunehmend ungehemmten langen Witwenschaft mir gegenüber einmal ausdrückte: «nicht so richtig schön».
Mein Vater starb, als Deb und ich in Italien waren. Wir waren mit einem anderen Paar, das Probleme hatte, dorthin gereist, um herauszufinden, ob wir unsere Ehe noch retten konnten. Unser Hotel in Florenz war klein, und man konnte ein bisschen vom Arno sehen; nach der Rückkehr von einer Bustour nach Fiesole – das kleine römische Stadion, dashübsche etruskische Museum, gebaut in der Form eines ionischen Tempels aus dem ersten Jahrhundert – hatten wir vier impulsiv entschieden, einen Nachmittagsdrink im Café im ersten Stock des Hotels zu nehmen und uns nicht gleich in die Enge unserer Zimmer zurückzuziehen. Der Raum mit seinem winkligen Ausblick auf den Arno war leer, bis auf einige Deutsche, die in einer Ecke Bier tranken, und ein paar Italiener, die mit Espressotassen in der Hand an der Bar standen. Wenn ich das Telephon überhaupt klingeln hörte, nahm ich sicher an, dass es nichts mit mir zu tun hatte. Aber der Barkeeper kam hinter der Bar hervor auf mich zu und sagte: «Signor Wer-lei? Anruf für Sie.» Wer konnte wissen, dass ich hier war?
Es war meine Mutter, ihre Stimme klang sehr klein und kratzig. «Jimmy? Habt ihr’s schön dort? Es tut mir leid, dass ich dich störe.»
«Ich bin beeindruckt, dass du mich gefunden hast.»
«Die Telephonistinnen haben geholfen», sagte sie.
«Was ist passiert, Mutter?»
«Dein Vater ist im Krankenhaus. Er hatte den zweiten Infarkt.»
«Wie schlimm ist es?»
«Er hat aufrecht im Auto gesessen, als ich ihn nach Alton fuhr.»
«Dann ist es also nicht ganz so schlimm.»
Ihre Antworten kamen mit einer Verzögerung, für die ich das transatlantische Kabel verantwortlich machte. Nach einer Weile sagte sie: «Ich wär da nicht so sicher.» Außer wenn wir telephonierten, fiel mir nie auf, was für einen deutlichen Pennsylvania-Akzent meine Mutter hatte. Wenn wir von Angesicht zu Angesicht miteinander sprachen, klang ihreStimme so klar, so frei von jedem Akzent wie meine eigene. Sie erklärte: «Er wachte auf und hatte dieses drückende Gefühl auf der Brust, für gewöhnlich ignoriert er es. Heute nicht. Hier ist jetzt Mittag.»
«Du willst also, dass ich zurückkomme», sagte ich anklagend. Ich wusste, mein Vater würde nicht wollen, dass ich mir seinetwegen Umstände machte. Wir vier hatten für morgen Eintrittsbilletts für die Uffizien.
Sie seufzte; das Kabel auf dem Grund des Ozeans knisterte. «Jimmy, ich fürchte, es ist besser, du kommst. Du und Deb natürlich, falls sie nicht lieber dableiben und die Kunst genießen will. Es gefällt Dr. Shirk nicht, was er hört, und du weißt, wie schwer er normalerweise zu beeindrucken ist.»
Operation am offenen Herzen und Gefäßdilatation waren damals noch keine Optionen; den Ärzten blieb wenig anderes zu tun, als mit dem Stethoskop die Herztöne abzuhören und Nitroglycerin zu verschreiben. Der Portier sagte uns, wann der nächste Zug nach Rom fuhr, und das andere Paar brachte uns in Florenz zum Bahnhof – gleich hinter der mediceischen Grabkapelle, die Deb und ich immer hatten sehen wollen und nie gemeinsam sehen sollten. In Rom
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